DER WERT EINER EINZIGEN TAT – Parascha Wajeschew

DER WERT EINER EINZIGEN TAT – Parascha Wajeschew

“Re’uwen hörte es und rettete ihn aus ihrer Hand; er sprach: Wir werden ihn nicht erschlagen! Es sprach Re’uwen zu ihnen: Vergiesset kein Blut, werfet ihn in diese Grube, die in der Wüste ist, aber Hand leget nicht an ihn! Um ihn aus ihrer Hand zu retten, ihn zu seinem Vater zurückzubringen.”

(Bereischit, 37:21-22)

Die Tora zeugt von Reuvens Bemühungen, Josef vor der Verschwörung des Bruders zu retten, ihn zu töten. In der Tat wird Reuven die Rettung von Josefs Leben zugeschrieben, obwohl er letztendlich sein Ziel, Josef an Jaakow Avinu zurückzugeben, verfehlt hat. Der Midrasch macht eine faszinierende Beobachtung: „Die Tora lehrt uns das richtige Verhalten, dass ein Mensch, der eine Mizwa durchführt, dies mit einem glücklichen Herzen tun sollte, denn hätte Reuven gewusst, dass HaSchem (in der Tora) aufzeichnen würde: “Und Reuven hörte und rettete ihn aus ihrer Hand”, hätte er Josef auf seinen Schultern getragen und ihn seinem Vater übergeben.“ (siehe 1. unten)

Die Kommentare finden diesen Midrasch sehr schwer zu verstehen – das oberflächliche Verständnis ist, dass, wenn Reuven gewusst hätte, dass seine Handlungen für die Ewigkeit in der Tora festgehalten worden wären, er mehr getan hätte, damit er für die zahllosen Menschen, die die ihn betreffenden Geschichten lesen würden, besser dastehen würde. Natürlich kann dies nicht die wirkliche Bedeutung des Midrasch sein, denn Reuven war eine äußerst großartige Person, die sicherlich nicht von solch niederen Motiven motiviert gewesen wäre. Was bedeutet demnach der Midrasch, wenn er besagt, dass er sein Verhalten geändert hätte, wenn er gewusst hätte, dass seine Tat in der Tora festgehalten werden würde?

Rav Yaakov Kamenetsky zt”l erklärt, dass der Vorfall mit Reuven ein bedeutsames Ereignis in der jüdischen Geschichte war, das katastrophale Folgen hätte haben können – wäre Josef getötet worden, wäre der Schaden für die Zukunft des jüdischen Volkes unermesslich gewesen, da er und seine Nachkommen eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der jüdischen Nation gespielt haben. Als Reuven sein Leben rettete, wusste er offensichtlich, dass es eine große Tat war, ein Leben zu retten, aber er erkannte nicht das volle Ausmaß der Bedeutung seiner Tat – eine Tat, die so groß war, dass sie für die Ewigkeit in der Tora festgehalten werden würde. Hätte er dies erkannt, hätte er mit noch größerer Begeisterung gehandelt und Josef direkt nach Hause zu seinem Vater gebracht.

Diese Erklärung lehrt uns eine wesentliche Lektion – dass jede noch so klein erscheinende Handlung von monumentaler Bedeutung sein kann. Darüber hinaus ist es durchaus denkbar, dass ein Mensch nicht in der Lage ist, die Bedeutung dessen, was er zu diesem Zeitpunkt tut, zu erkennen, wie es bei Reuven der Fall war. Die folgende Geschichte veranschaulicht diesen Punkt: Ein Mensch, der in Har Nof lebt, pflegte um 6.25 Uhr im Minyan (Versammlung mit mindestens 10 Menschen) um Kehillas Bnei Torah regelmäßig zu beten und lernte dann sofort mit einer Chavrusa (Studienpartner). Gelegentlich verschlief er ein wenig und kam dann zu spät zum Minyan. Dadurch geriet er in ein Dilemma – wenn er im Minjan um 6.25 Uhr beten würde, müsste er etwas von Pesukei D’Zimra (siehe 2. unten) auslassen, käme aber pünktlich zu seiner Lernsitzung an. Die andere Möglichkeit wäre, im nächsten Minyan im Schul (in der Synagoge) zu beten, der um 7.00 Uhr morgens stattfand – aber die Kehrseite davon wäre, dass er zu spät zur Chavrusa käme. Er beschloss, Rav Ezriel Auerbach Schlit’a zu fragen, was er tun solle, in der Erwartung, dass man ihm sagen würde, er solle Teile von Pesukei D’Zimra auslassen, um nicht zu spät zum Lernen zu kommen. Zu seiner Überraschung betonte Rav Auerbach, wie wichtig es sei, ganz Pesukei D’Zimra zu sagen, und wies ihn an, dass er nichts überspringen solle, sondern im späteren Minyan beten solle, auch wenn sich sein Lernen verzögern würde. (siehe 3. unten) Am schicksalhaften Dienstag des Massakers von Har Nof verschlief der Mann ein wenig und wäre fünf Minuten zu spät zum Minyan um 6.25 Uhr gekommen – er war sich nicht sicher, ob er dort noch beten sollte, da er sich nur ein wenig verspätet hatte, obwohl dies bedeuten würde, dass er einen Teil von Pesukei D’Zimra verpassen müsste. Da er sich nicht sicher war, was er tun sollte, entschied sich der Mann, dem Urteil zu folgen, das er erhalten hatte, und ging zum späteren Minyan. Als er sich entschied, dem Psak (rabbinische Verordnung), das er erhielt, treu zu folgen, konnte er sich die Bedeutung seiner Wahl nicht vorstellen, obwohl sie ihm in Wirklichkeit vielleicht das Leben gerettet hätte.

Dies ist nur eines von zahlreichen Beispielen dafür, wie eine gute Tat oder Entscheidung monumentale Folgen haben kann, und erinnert uns an die potenzielle Bedeutung jeder unserer Taten. In Wirklichkeit ist die Lektion, die der Midrasch erteilt hat, jedoch viel weitreichender, als es den Anschein hat – denn in der Tat haben die meisten kleinen Taten nicht unbedingt gewaltige Konsequenzen, wie Reuvens historische Rettung von Josef oder wie die Entscheidung des Mannes, in einem späteren Minyan zu beten. Wie verhält sich demnach der Midrasch zu diesen unzähligen Taten? Die Antwort findet sich am Ende des Midrasch – sie kommt zu dem Schluss, dass wir heute keinen Propheten haben, der unsere Mizwot aufzeichnet, wie es in der Vergangenheit geschah, und es fragt: “Wer zeichnet sie heute auf? Die faszinierende Antwort ist, dass Eliyahu haNavi und Maschiach es aufzeichnen, und HaSchem besiegelt es. Dies bedeutet, dass jede einzelne Tat von so großer Bedeutung ist, dass sie für die Ewigkeit aufgezeichnet wird und nicht weniger als das Siegel von HaKadosch Baruch Hu (G-tt, gesegnet sei Er) selbst trägt. Das erinnert uns daran, jede mögliche gute Tat ungeachtet ihrer scheinbaren Folgen zu schätzen. Dies ist in allen Bereichen von Avodat HaSchem (G-ttesdienst) relevant – im Bereich des “Bein Adam LeMakom” (zwischen Mensch und G-tt), wie z.B. ein paar Minuten mehr lernen oder mit etwas mehr Absicht beten; im Bereich des “Bein Lechaveira” (zwischenmenschliche Beziehungen), wie z.B. ein kleiner Akt der Freundlichkeit oder ein paar Worte des Lobes; oder im Bereich des “Bein Adam Leatsmo” (zwischen Mensch und sich selbst), wie z.B. ein paar Minuten der Selbstreflektion oder ein kleiner Akt der Selbstbeherrschung.

Möge die Anerkennung des enormen Wertes jeder Tat es uns ermöglichen, die Anzahl und Qualität dieser Taten zu erhöhen.

Quellen aus dem Text:

1) Yalkut Shimoni, Vayikrah Rabbah, 34:8. Dort finden Sie zwei weitere Beispiele für dieses Phänomen.

2) Das bedeutet wörtlich: ‘Lobpreisverse’ – es bezieht sich auf die Reihe von Versen aus dem Tanach, die man in Schacharit (Morgengebet) sagt. Man soll all diese Verse sagen, aber in Zeiten der Not kann es vorkommen, dass man bestimmte Abschnitte überspringt – was jedoch als weit vom Ideal entfernt angesehen wird.

3) Diese Entscheidung wird hier nicht als eine difinitive Entscheidung gebracht, der jeder folgen kann – man sollte seinen eigenen Rav fragen, was er in seiner eigenen einzigartigen Situation tun soll.