Dritte Kraftquelle für die Erneuerung: der Jüdische Kalender – Parascha Waera

Dritte Kraftquelle für die Erneuerung: der Jüdische Kalender – Parascha Waera

Wir haben den Sederabend und das Pessachfest bereits in Ägypten gefeiert. Wir waren noch nicht einmal wirklich befreit. Die Plagen sorgten dafür, dass die Ägypter uns nicht mehr zur Sklavenarbeit zwangen. Aber wie jeder Sklave hatten auch wir wenig Eigenes.Alle Voraussetzungen für ein unabhängiges und autarkes Volk wurden uns direkt beim und nach dem Exodus gegeben. Die erste Mitzwa (Gebot) war der jüdische Kalender. Kein heiliger Ort, kein heiliges Objekt, sondern eine Zeiteinteilung nach HaSchems (G’ttes) Vorstellung. Damit begann das jüdische Volk seine Reise durch die Zeit. Damit setzte das jüdische Volk seine Dynamik inmitten der Völker fort.

Unmittelbar nach unserer Volkswerdung gab es

1.    Chamets und Matza. Außerdem wurden uns

2.    die Tefilin (Gebetsriemen) ausgehändigt. Der erste direkte Befehl an Am Jisrael – das sich noch in der Sklaverei befand – war

3.    die jüdische Zeiteinteilung. Wir waren von der Sonne, einem wichtigen Götzen in Ägypten, losgelöst. Wir wandten uns dem Mond zu. Was ist das Geheimnis des jüdischen Kalenders?

Eine dritte Quelle für die Energie der jüdischen Erneuerung findet sich in unserem Mondkalender, der ebenfalls ein typisches Symbol für ständige Erneuerung ist, in dem die Natur ebenfalls eine führende Rolle spielt und aufzeigt, wie wir uns zu G’tt verhalten können. 

Warum zählen wir unseren Kalender nach dem Mond und nicht nach der Sonne?

Die erste wirkliche Mitzwa – Gebot der Tora – für das Jüdische Volk wurde noch in Ägypten gegeben. Im zweiten Buch der Tora – Schemot/Exodus – wird der Beginn des Jüdischen Kalenders vorgeschrieben: “Und G’tt sprach zu Mosche und Aharon im Land Ägypten wie folgt: “Dieser Monat wird für euch der Anfang der Monate sein, er ist der erste der Monate des Jahres für euch” (12:1 -2). Dies war der Frühlingsmonat, den wir heute Nissan nennen. 

Erste Mondsichel des Neumonds

Der Neumondtag wird Rosch Chodesch genannt, Monatsanfang oder Kopf des Monats, der erste Tag eines jeden Monats. Der Beginn eines jüdischen Monats im Hebräischen Kalender ist in der Natur durch das Erscheinen der ersten Mondsichel des Neumonds erkennbar.

Es ist bemerkenswert, dass die Festlegung des Schabbats als siebten Tag der Woche nicht klar und erkennbar in der Natur begründet liegt. Der Mond hingegen ist ein deutlicher Hinweis auf die Erneuerung, die Zu- und Abnahme einer Zeiteinheit, die wir im Jüdischen Kalender heute als Monat bezeichnen. Die Sonne gibt keinen solch eindeutigen Hinweis. Die Sonnenmonate sind eher das Ergebnis einer zwischenmenschlichen Vereinbarung als eines natürlichen Phänomens, das anzeigt, wann ein Monat zu Ende ist und wann er wieder beginnt. 

Die Frage ist, warum das Judentum den Mond als Grundlage seines Kalenders nutzt und nicht die Sonne wie der Rest der Welt?

Ein genauerer Blick: Warum ist der Mond der Sonne vorzuziehen?

Bei der Beantwortung der Frage, warum wir unseren Kalender nach dem Mond zählen, spielen viele Faktoren eine Rolle:

1.     Die Entwicklung von einem Sklavenvolk zu einem Volk des Buches.

2.     Die Beziehung zwischen Sonne und Mond bei der Schöpfung. Warum musste der Mond kleiner sein?

3.     Die Macht über das Phänomen der Zeit.

4.     Was passiert, wenn wir bei der Berechnung einen Fehler machen, und wie sollten wir mit Macht umgehen? 

Warum gab G’tt den Jüdischen Kalender als erste Mitzwa?

Eine einfache Antwort ist, dass wir zuerst einen Kalender erhalten haben, denn ohne einen Kalender können wir Pessach nicht feiern. Ohne einen Kalender weiß niemand, wann Pessach jedes Jahr stattfindet oder wann wir Mazzes am Sederabend essen müssen. Aber es gibt auch einen tieferen Hintergrund, der direkt mit dem neuen Status des Jüdischen Volkes nach dem Auszug zusammenhängt. Die Juden waren 210 Jahre lang die Knechte und Sklaven der Ägypter gewesen. Sie waren Untertanen und hatten keine Macht oder Verantwortung als unabhängige freie Menschen.

Macht über die Zeit

Nun erhielten sie die Macht über ein Phänomen, über das niemand Kontrolle ausüben kann: den Lauf der Zeit. Egal, was wir versuchen, eine Stunde hat 60 Minuten und eine Minute 60 Sekunden. Wir können die Zeit nicht ändern, wir können sie weder beschleunigen noch verlangsamen. Mit dieser ersten Mitzwa (Gebot) für das Jüdische Volk, die uns bereits in Ägypten vor dem Exodus gegeben wurde, haben wir unseren eigenen Kalender bekommen und kontrollieren die Zeit in gewisser Weise. Von diesem Tag an (vor 3334 Jahren) mussten wir jeden Neumond untersuchen und jeden neuen Monat heiligen. Bis zu einem gewissen Grad haben wir gelernt, über die Zeit zu herrschen. Das Jüdische Gericht hier auf Erden, das Bait Din, konnte – als Vertreter des gesamten Jüdischen Volkes – bestimmen, wann der neue Jüdische Monat beginnen würde. Dies hatte zur Folge, dass dadurch auch die Daten der nächsten Jüdischen Feiertage festgelegt wurden.  

Aufhebung des Sklavenstatus

Die ehemaligen Sklaven brauchten diese Mitzwa (Gebot), um sich aus ihrer Sklavenmentalität in den Status als freie Menschen zu erheben, die ihre Umgebung kontrollieren und verändern konnten. Die Menschen wandelten sich von Untertanen zu unabhängigen, freien Personen, die eigene Entscheidungen treffen, ihr Umfeld mitgestalten und verändern konnten und lernten, eigene Verantwortung zu übernehmen.

Sie erhielten nicht nur die Macht über den Mond, sondern auch über den Kalender. Diese Macht über die Zeit – ein nicht greifbares Phänomen – ist so stark, dass eine bekannte talmudische Aussage besagt, dass das Himmlische Gericht mit der Festlegung des neuen Monats wartet, bis das niedere Gericht, das Bait Dien hier auf der Erde, den Neumond heiligt (B.T. Rosch Haschana 8b). Dies ist so stark, dass es sogar dann gilt, wenn das irdische Bait Dien bei der Berechnung und Bestimmung des Neumondtages Rosch Chodesch einen Fehler gemacht hat. 

Midrasch: Hintergrund der Verkleinerung des Mondes

Im ursprünglichen Schöpfungsplan G’ttes sollten Sonne und Mond gleich sein. Die Sonne sollte bei Tag herrschen, der Mond bei Nacht. Ursprünglich waren die Sonne und der Mond gleich groß. Der Mond beschwerte sich bei G’tt, dass “es nicht zwei Kapitäne auf einem Schiff geben kann”. Dann befahl G’tt, dem Mond sich zu verkleinern. Der Mond protestierte, aber G’tt tröstete den Mond mit dem Segen, dass der Mond in Zukunft ‚Hamaor hakatan‘ – das kleine Licht – genannt werden würde. Alle großen Jüdischen Anführer, die sich bescheiden verhielten, wurden nach dem Mond benannt, weil sie alle bescheiden und dem Klal – der Gemeinschaft – gegenüber zuvorkommend waren wie der Mond.

Unser Kalender unterstreicht die Bedeutung der Bescheidenheit in der Religion

Unser Kalender ist ein Mondkalender, weil wir dieses Merkmal der Bescheidenheit und Demut betonen wollen. Nur durch Bescheidenheit können wir uns HaSchem (G’tt) am besten nähern. Bescheidenheit zeigt den Charakter von jemandem, der sich an G’tt bindet und deshalb große Höhen erreichen kann. Neben der Macht über das Element Zeit wurde uns gesagt, unter allen Umständen bescheiden zu bleiben und Macht zu meiden, denn leider korrumpiert Macht. 

HaSchem so nahe wie möglich kommen

Der Mond ist das beste Beispiel für Bescheidenheit. G’tt wies den Mond an, sich zu verkleinern. Der Mond nahm dies ernst. Der Mond hat sich unendlich viel kleiner gemacht als die Sonne. Und gab auch seine eigene Strahlkraft auf. Von nun an würde der Mond nur noch die Sonnenstrahlen reflektieren und nicht mehr selbst scheinen. In gleicher Weise ist das Jüdische Volk stolz darauf, dass wir den Glanz des G’ttes in der Welt widerspiegeln dürfen.

Unsere ganze Religion, unsere ganze Tradition versuchen wir so rein wie möglich zu halten, indem wir zu dem was wir von G’tt erhalten haben, nichts Menschliches hinzufügen So ist unsere Bescheidenheit ein Instrument, um dem Allmächtigen so nahe wie möglich zu kommen. Und der Kalender legt davon Zeugnis ab. Das oben Gesagte ist der tiefe Hintergrund auf der Ebene des Midrasch, der eher kabbalistischer Natur ist. Eine Erklärung auf nationaler Ebene stammt von dem Frankfurter Rabbiner Hirsch (19. Jahrhundert, Frankfurt)

Symbol für die Erneuerung des Jüdischen Volkes

Die Berechnung des Jüdischen Kalenders folgt in erster Linie dem Lauf des Mondes um die Erde und ist im Prinzip ein Mondjahr, wird aber später so weit wie möglich dem Sonnenjahr angeglichen. Der Vorrang des Mondkalenders ist auch philosophisch inspiriert: Das Zu- und Abnehmen des Mondes symbolisiert die Erneuerung des Jüdischen Volkes. “Wie der Mond geht auch das Jüdische Volk nie verloren, nicht einmal in den dunkelsten Zeiten. Erneuerung und Wiederbelebung sind zu allen Zeiten gewährleistet, solange G’ttes Kinder Ihm treu bleiben”, so Rabbiner S. R. Hirsch, der den Jüdischen Kalender als zentrales Thema des Judentums bezeichnete.