EINE TOTE MUTTER UND DER LEBENDIGE BRUTKASTEN
In der Universitätsklinik Nürnberg-Erlangen wird Marion Ploch, eine 18-jährige Zahnarztassistentin, am 8. Oktober 1992 für Hirntod erklärt. Sie war zu diesem Zeitpunkt in der 13. Woche schwanger. Die Vaterschaft war nicht bekannt und die Eltern von Marion waren anfänglich nicht dazu bereit, das Kind, wenn es einmal auf der Welt ist, großzuziehen.
Die Ethik-Kommission des Krankenhauses entschied letztendlich, den Körper der toten Mutter zum Wohle des Kindes, das beim Autounfall im Leib der Mutter, keine sichtbaren Schäden davon getragen zu haben schien, mit Hilfe der medizinischen Geräte weiter am Leben zu halten. Sonntag Nacht, am 15. November, erfolgte ein unvorhersehbarer Abort und der Fötus verstarb.
Kann man es verantworten, den Körper einer toten Mutter zu verwenden, um ein ungeborenes Kind am Leben zu erhalten? Was bedeutet es für ein Embryo, sich in einer Toten zu befinden? Laut Ludwig Janus, spezialisierter Geburtspsychologe, ist das Heranreifen in der Gebärmutter einer toten Mutter gleich zu setzen mit „ Folterung in Abgeschiedenheit“. Aber nach Ansicht des Chefarztes der Klinik, Johannes Scheele, hat das Ungeborenenrecht zu leben, absoluten Vorrang und „es wurde bei den wenigen gleichartigen Fällen, die wir kennen, festgestellt, dass das Kind ganz normal zur Welt kommen und sich auch normal entwickeln kann“.
Die Presse berichtete, dass es zu dem damaligen Zeitpunkt in Deutschland fünf Kinder gab, die nach dem der Hirntot der Mütter festgestellt wurde überlebt haben, die ihr Leben ganz normal weiterlebten. Laut unterschiedlicher medizinischer Veröffentlichungen waren sogar acht bis zehn ähnliche Fälle weltweit bekannt.
Die Reaktionen aus der Gesellschaft und aus den Medien waren stark verurteilend und hässlich:
„Muss die Grossmutter den Bauch ihrer toten Tochter und somit das vier Monate alte Baby streicheln?“
“Mir wird schlecht beim Gedanke, dass ein klinisch totes achtzehnjähriges Mädchen als „lebender Brutkasten“ benutzt wird.”
“Die Grenzen des medizinisch-ethisch Erlaubten wurden hier weit überschritten” so Martin Kroon in der Zeitung “Trouw” vom 28. Oktober 1992.
Dr. D. Pranger, Hausarzt aus den Niederlande meint, dass einer schwangeren Toten das Recht auf Sterben nicht verwehrt werden darf. Ehrfurcht vor ihrem Leben bedeutet, laut des Arztes, dass wir mit dem Sterben der Mutter nicht spielen oder experimentieren dürfen. Das Recht ihres ungeborenen Kindes auf Leben ist dem Recht der Mutter untergeordnet. Auf eine menschliche Art zu sterben ist hier der Punkt eines “uneingeschränkten, unverantwortlichen medizinischen Experimentes” erreicht.
Kolumnisten (20/11/92) sprachen nach dem abrupten Abortus davon, dass es für den Fortschritt der medizinischen Wissenschaft nichts gebracht hat, “höchstens eine für die Karriere der Ärzte interessante Berichterstattung”.
Ambition und Eitelkeit waren die Triebfedern für dieses medizinische Experiment. Die Europa-Parlamentarierin Lissy Groner empfand, dass die “verbrecherischen Experimente von Nazi-Ärzten mit Menschen nicht durchgeführt werden durften” und das Medizinische Frauenzentrum in Frankfurt verlautbarte, dass “diese Praktiken die ersten Schritte auf dem Weg zur künstlichen Erschaffung von menschlichen Wesen” wären.
Ich bin jedoch auf Grund der Jüdischen Bibel-Traditionen der Meinung, dass die Ärzte hier richtig gehandelt haben, indem sie das taten, was sie tun konnten.
THERAPEUTISCHE EXPERIMENTE
Die medizinische Kunst und das Können haben einen hohen Stellenwert erlangt, gerade auch Dank der vielen, wenn auch nicht immer erlaubten, Experimente. Das Wort “Experiment” hat einen schalen Beigeschmack innerhalb der Jüdischen Gesellschaft.
Die Jüdische Gesellschaft ist nach den Ereignissen in den Vernichtungslagern übersensibel gegenüber dem Wort “Experiment” geworden. Es mag für die Bundesrepublik Deutschland eine zweifelhafte Ehre sein, dass diese Experimente, wie sie im Fall von Marion Ploch erfolgten, wieder auf gleichem Boden statt fanden.
Nichtdestotrotz sollte selbst bei diesem und ähnlichen Fällen die Vernunft der biblischen Lebenseinstellung überwiegen, gemäss Deuteronomium 30:19: „Das Leben und den Tod zeige ich Dir, den Segen und den Fluch; wähle das Leben!“ Auch wenn die medizinische Kunst manchmal ein Fluch zu sein scheint, ist das Leben zu bevorzugen, unter allen Umständen. Aber ist hier die Rede von einem Experiment?
Es gibt verschiedene Bezeichnungen für das Wort Experiment, aber im erweitertem Sinne geht es um ein medizinisches Experiment, wenn man eine noch nicht in ihrer Gänze erprobte Methode als letztes Mittel verwendet, einen Kranken zu heilen oder das Leben retten zu wollen. Experimente werden zu bedeutenden ethischen Fragen, wenn der Mensch das Objekt der Versuche wird.
Medizinische Experimente beabsichtigen einem sozialen Zweck zu dienen und das wird meistens bezeichnet als bessere Hilfe in einer nahen Zukunft. Bei einer ethischen Beurteilung, ob dieses Experiment im betreffenden Fall als zulässig betrachtet werden kann, müssen zwei Werte abgewogen werden:
- die Integrität der Person, die das Experiment durchführt und
- die sozialen Belange, denen durch die neuen Erkenntnisse gedient werden könnte.
Wenn eine Versuchsperson während eines Experimentes ernsthaften körperlichen oder geistigen Gefahren ausgesetzt sein sollte, ist dieses ethisch unverantwortlich. Die Erklärungen von Nürnberg (1947), die der World Medical Association (1949,1954), aber die vor allem von Helsinki (1964), betrachten es in der Einleitung als annehmbar, dass Menschen für medizinisch-wissenschaftliche Experimente als Versuchspersonen dienen könnten. Unbeschadet dieser Ausführungen gilt jedoch eine Zahl ausdrücklicher Vorbehalte:
- eine bewußt mitgeteilte Einwilligung
- alle erforderlichen Voruntersuchungen müssen beendet sein und die erwünschten und möglichen Tierversuche fanden statt
- es darf kein ungleiches Verhältnis zwischen den Risiken für die Versuchsperson und dem Zweck der eventuellen wissenschaftlichen Ergebnissen entstehen.
- das Experiment muss in einer gut zu überschauenden Umgebung erfolgen, so dass es im Interesse der Versuchsperson zu jedem erwünschten Zeitpunkt abgebrochen werden kann.
Im anstehenden Fall geht es jedoch nicht um einen klinischen Versuch oder um ein medizinisch-wissenschaftliches Experiment, sondern um ein therapeutisches Experiment, wobei der Schwerpunkt auf den Belangen der Kranken liegt.
Bei der Behandlung von Kranken gilt als allgemeine Norm, dass der Arzt nur das tun sollte, was nach seiner Überzeugung die grösste Möglichkeit zum Erfolg verspricht.
Im Fall von Marion Ploch würde der Arzt überlegen müssen, ob er nichts unternimmt, so dass der Embryo stirbt oder er eine noch unerprobte neue Behandlungsmethode anwenden sollte, die eine Anzahl an Gefahren beinhaltet.
Wenn dieses Letztgenannte möglich ist, muss die Einwilligung des Patienten eingeholt werden. Wenn er oder sie nicht im Stande ist, die erforderliche Einwilligung zu erteilen, ist eine Lösung mit Angehörigen zu finden.
McCormick hat 1974 eine ausführliche Übersicht darüber veröffentlicht. Therapeutische Experimente im Interesse des Kindes scheinen in der medizinischen Welt annehmbar, wenn die Eltern hierzu ihre Einwilligung erteilt haben.
EINE JÜDISCHE WERTSCHÄTZUNG
Das Judentum bietet keine Vorgaben anhand derer man ein Menschenleben abmessen kann oder darf, wie z.B. beim Gesundheitszustand oder bei gewissen Familienumständen.
Laut dem Talmud ist auch ein Patient im Endstadium und selbst der, der sich im Todeskampf befindet, in jeder Hinsicht als lebend zu betrachten. Zu Beginn des Lebens gilt das Selbe.
Aristoteles und Thomas von Aquin teilten diesselbe Ansicht, dass die „Beseelung“ der Frucht nicht bei der Empfängnis erfolgt, sondern erst nach drei bis vier Monaten der Schwangerschaft. Das keimende Leben würde erst durch einen pflanzenartigen, anschliessend durch einen tierischen Lebensbeginn unterstützt werden, bis die Entwicklung soweit ist, dass die „Beseelung“ durch den menschlichen Geist erfolgen und dieser menschliche Lebensbeginn die weitere Entwicklung zu Ende bringen kann.
Als Widerspruch dagegen hat Dr. Flamm, bezugnehmend auf den Softenonprozess von Lüttich im Jahr 1962 die Ansicht vertreten, dass menschliches Leben erst sechs Wochen nach der Geburt beginnt: „Das soeben geborene Kind ist noch kein Mensch, bloss ein Mensch in Werdung“.
Weder Aristoteles noch Flamm vertreten den Jüdischen Standpunkt. Der Talmud unterscheidet unterschiedliche Stadien in der psychosomatischen Entwicklung:
- während der ersten vierzig Tage wird der Embryo schlicht mit ‚maja bealma’ – nur etwas Wasser – benannt.
- ab dem vierzigsten Tag bis zur Geburt ist keine Rede von vollwertigem menschlichem Leben, das bei einem Fall, wenn man zwischen dem Leben von Mutter und Kind wählen muss, deutlich wird. Mit großer Eindeutigkeit verkündet der Talmud, dass das Leben der Mutter während der Schwangerschaft Vorrang hat.
- nach der Geburt hat das Kind bereits den Status des Menschen und es wird hauptsächlich beseelt durch die „Jetzer Hara“ – der irdischen Ausrichtung, dem Hang nach dem Materiellen.
- ab dem Zeitpunkt der religiösen Volljährigkeit (13 Jahre) ist man erst ein vollständiger Mensch. Jedoch hat diese Vierteilung keine praktische Schlussfolgerungen ergeben. Auch das geringste schon begonnene embryonale Leben wird durch die Jüdische Tradition entsprechend geschützt.
Nachmanides (1194-1270), Mediziner, auch ein großer Jüdischer Gelehrter, bestimmt, dass die strengen Shabbat-Gesetze übertreten werden dürfen, um Leben, selbst während der ersten vierzig Tage, zu erhalten und zu beschützen.
Im Talmud (B.T. Arachien 7a) besagt Rabbi Nachman im Namen von Schmuel, der ebenfalls Arzt war, dass „wenn eine Frau während der Geburt verstirbt, man ihren Bauch aufschneiden darf, um den Fötus zu retten“.
Ist dieses im Widerspruch zur Ehrfurcht, die das Judentum für die sterblichen Überreste vorschreibt, nach den vor Kurzem erfolgten Unruhen rund um die Ausgrabungen an antiken Begräbnisstätten in Israel, von denen wir neuerlich Zeugen werden durften?
Sicherlich, aber der Vorrang auf Leben schiebt alle Überlegungen und Prioritäten von Pietät zur Seite, sobald es die Rede von Lebensgefahr eines Anderen ist.
Den Körper der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen ist, ohne zwingende Gründe, nach dem Jüdischen Gesetz verboten, da dieses eine Entweihung der sterblichen Überreste bedeutet. Einen Verstorbenen oder eine Verstorbene zu verwenden und somit die vorgeschriebene Beerdigung zu umgehen ist somit nicht erlaubt. Während die Kabbalisten hier noch anfügen, dass die Seele darunter leidet, wenn sie mit ansehen muss, wie die irdische Komponente entehrt wird.
Aber im vorliegenden Fall geht es um eine Frage der Lebensrettung, bei dem all diese Verbote entfallen. Eine Mutter über den Tod hinaus weiter am Leben zu lassen, um das Kind zu retten, ist nicht verboten. Im Gegenteil: es ist geboten, das Leben über den Tod zu stellen.
Das Recht des ungeborenen Kindes auf Leben ist sicherlich nicht dem Recht auf menschenwürdiges Sterben untergeordnet, von dem im Falle von Marion Ploch keine Rede ist, da die Mutter bereits verstorben war.
Die Frage ob der Embryo, bedingt durch die beängstigende, fast science-fiction-artige anmutende Situation, vielleicht Folgeerscheinungen aufweisen wird, ist momentan nicht zu beantworten. In ähnlichen Fällen wird der Talmud die nachstehende Entscheidungsregel vorgeben: „bari weschama, bari adif –wir folgen dem der sicher die Situation beurteilen kann!“
- Sicherheit heisst, dass der Embryo am Leben gehalten werden kann
- ein schmerzliches Nachspiel ist keine (gesicherte) Erkenntnis
- das die Wahl aus Talmudischer Perspektive nicht schwer fällt: Sicherheit ist dann zu bevorzugen!
BENUTZTE LITERATUR: Abraham, A.S., Nisjmat Awraham, Jerusalem, 1982, vol. I:328, 330. Halperin, M., Sefer haKinoes, Dr. Falk Schlesinger Inst., Jerusalem, 1996, p. 693 e.v. Roodyn, P., Pathways in Medicine, Laniado Hospital, Netanya, Feldheim Publishers, Nanuet, N.Y., ISBN 1-56871-060-7, p. 125 ff.