Einführung in die Trauerregeln und Trauerpraktiken 3

Einführung in die Trauerregeln und Trauerpraktiken 3

Die jüdische Einstellung zum Tod

Das Judentum gibt keine konkreten Antworten auf Fragen wie `Warum jetzt?` und `Warum gerade er?` Der Talmud sagt dazu: “Leben, Kinder und Finanzen hängen nicht von guten Taten ab, sondern vom Glück. Rabba und Rav Chisda waren beide fromme Gelehrte; wenn einer für Regen betete, dann kam Regen, und wenn der andere für Regen betete, dann kam er auch. Dennoch lebte Rav Chisda 92 Jahre, während Rabba nur 40 Jahre lebte. Bei Rav Chisda wurden 60 Hochzeiten gefeiert, während bei Rabba 60 Beerdigungen stattfanden. Bei Rav Chisda waren die Hunde so verwöhnt, dass sie selbst feines Brot nicht gern aßen, während es bei Rabba nicht einmal für die Menschen genug Gerstenbrot gab.5.

Das Judentum beantwortet die Frage, wie man mit dem Tod umgehen muss. Das Judentum kennt eine Reihe von Riten und Bräuchen. Diese Riten sollen der Gemütslage der Trauernden Ausdruck verleihen, um die äußere Erscheinung dem inneren Gefühl anzugleichen. Da es im Judentum nicht nur um eine Katharsis oder Gefühlsäußerung, sondern auch um eine Art Umerziehungsprozess geht, lassen sich auch eine Reihe von Vorschriften anhand ihres erzieherischen Charakters unterscheiden 6. Dieser Erziehungsprozess zielt hauptsächlich darauf ab, eine tiefere Einheit zwischen dem betroffenen Individuum und der Gemeinschaft und eine höhere Einheit zwischen Mensch und G’tt herzustellen. Hierbei lassen sich zwei Aspekte unterscheiden:

1. Die Vorbereitung auf den Tod.

2. Der Trauerprozess nach einem Verlust.

1. Vorbereitung auf den Tod

Das Judentum ist realistisch. Es weiß, dass der Tod ein Teil des Lebens ist und erkennt, dass Selbstbetrug nichts nützt. An Yom Kippur – dem Großen Versöhnungstage – verlangt die Tradition, dass man sich in einen kittel kleidet – das schlichte weiße Leinengewand, welches das Totenhemd symbolisiert, in das man nach dem Tod gekleidet wird. Es lässt uns erkennen, dass die Tage abgezählt sind und vorbfliegen. Der Große Versöhnungstag ist eine jährliche Begegnung mit dem Tod. An jenem Tag lässt der Mensch all seine Freuden los, greift weder zum Essen noch zum Trinken und segnet seine Kinder wie zum Abschied. Man setzt sich den ganzen Tag mit einer Liturgie auseinander, die die Zerbrechlichkeit des Menschen betont, und man spürt seine Vergänglichkeit mehr als an jedem anderen Tag.

Ein zweites Beispiel für diesen Realitätssinn sind die Gebete, die gesprochen werden müssen, wenn jemand von uns geht. Die Worte sind kurz, einfach und direkt.

Eine weitere bedeutungsvolle Jüdische Praxis ist das Schreiben eines “ethischen Testaments”. Heute wird die Erbschaftsabwicklung auf Rechtsanwälte, Notare und Banken übertragen. Unsere Vorfahren machten sich weniger Sorgen um ihr Eigentum, sondern darüber, ob ihre Werte und Prinzipien, nach denen sie gelebt hatten, überdauern würden. Ein solches Testament wurde zu einer Zeit verfasst, als die Menschen noch völlig gesund waren, und gab einen Überblick über die Lebensregeln und Ziele, die sie bei ihren Kindern verwirklicht sehen wollten.

2. Der Trauerprozess nach einem Todesfall

a. Die Gemeinschaft

In der westlich geprägten Welt ist in der letzten Zeit, seit der Säkularisierung und der Ausweitung sozialer Netzwerke eine Lockerung der Verhaltensregeln nach einem Todesfall entstanden. Das Allgemeinwissen auf dem Gebiet der Übergangsriten ist zurückgegangen, sodass die Trauernden und Umstehenden nicht mehr wissen, wie sie sich verhalten sollen oder widersprüchliche Forderungen stellen. Die wechselseitige Verunsicherung führt zu einer zunehmenden Verringerung der Trauer in der Privatsphäre. Die Trauer beschränkt sich also auf ein Teil des Netzwerkes des Verstorbenen und muss weitgehend individuell geleistet werden. Aufgrund der gegenseitigen Ungewissheit besteht sowohl bei der Familie als auch bei den Umstehenden ziemlich viel Unkenntnis und Fluchtverhalten 8.

Im Privatleben des Torah-observanten Juden gibt es keine Säkularisierung und das soziale Netzwerk ist immer noch sehr eng. Alle Vorschriften für das Trauerritual sind – zumindest im Wesentlichen – allgemein bekannt. Für die Familie gelten klaren Regeln und Einschränkungen und auch die Umstehenden werden nicht im Ungewissen gelassen. Auch sie haben eine klare und wichtige Rolle, vor allem nach der Beerdigung, damit sie genau wissen, was von ihnen verlangt wird. Die Gemeinschaft teilt die Freude und das Leid jedes Einzelnen.

In schwierigen Zeiten lässt die Gemeinschaft den Trauernden wissen, dass er nicht allein ist. Seine erste Mahlzeit wird von anderen zubereitet und zu ihm gebracht. G’ttesdienste werden von der Synagoge in sein Haus verlegt, so dass man sich auch in dem Moment, in welchem man sich am isoliertesten fühlt, als ein Teil der Gemeinschaft fühlen kann. Während des ganzen Trauerjahres beten die Menschen nicht allein, sondern zusammen mit dem Minjan (ein Quorum von zehn Erwachsenen) als ein Mitglied der “Bruderschaft der Trauernden”, die zweimal oder dreimal täglich zusammenkommt.

Die Gemeinschaft ist nicht nur ein horizontaler Begriff, sie hat auch eine vertikale Bedeutung. Der biblische Ausdruck für das Sterben lautet: “zu seinem Volk versammelt werden”, oder “von seinen Vätern versammelt werden”. Wenn man stirbt, wird man ein Teil der Geschichte. Trauern ist also auch eine Angelegenheit, die die ganze Gemeinschaft teilt und wird nicht auf die Privatsphäre beschränkt. Da man seine Gedanken nicht von der Trauer abwenden darf, ist ein Fluchtverhalten praktisch unmöglich.

Eine der Formen der Flucht ist der große Einsatz von Spezialisten im Todesfall. Alles, was zugunsten des Wohles der Toten nötig ist, kommt in die Händen von Fremden. Bei den Juden sind in erster Instanz die Familienangehörigen für die Versorgung der Toten verantwortlich, danach obliegt die Pflicht der gesamten Gemeinde. Unsere Weisen haben bestimmt, dass, wenn jemand in der Stadt stirbt, jeder aufhören muss, zu arbeiten, um sich auf die Beerdigung vorzubereiten 9.

b. Phaseneinteilung

Ein weiteres wichtiges Merkmal des Jüdischen Trauerprozesses ist die klare Abfolge von Phasen, bevor ein Mensch dauerhaft über seinen Verlust hinauswachsen kann. Rabbiner Hirsch sagt dazu: “Jede nächste Phase muss die vorhergehende Phase abschließen; tatsächlich ist es erst möglich, mit der nächsten Phase zu beginnen, wenn die vorige Phase vollständig abgeschlossen ist”. Es gibt klare formale Kennzeichen für den Beginn und das Ende jeder Phase10. Diese Phaseneinteilung gilt für alle, unabhängig vom subjektiven Gehalt der Trauer.

Es gibt fünf formale Trauerphasen:

Aniut: Ab dem Moment des Sterbens bis zum Begräbnis.

Awelut: Ab der Beerdigung bis sieben Tage nach der Beerdigung.

Niwul: Ab dem achten Tag nach der Beerdigung bis zum dreißigsten Tag nach der Beerdigung. Wenn ein Elternteil stirbt, gilt ein anderer Zeitraum: bis das vernachlässigte äußere Erscheinungsbild abstoßend wird, oder alternativ drei Monate.

Trauerjahr: bis zu einem Jahr nach dem Todeszeitpunkt.

Jahrzeit: Tag der Besinnung, jedes Jahr am Todestag.

An besonderen Tagen werden die Verstorbenen in einem speziellen Jiskor-Gebet in der Synagoge erwähnt.

c. Sieben Stadien

Faktisch kann aber zwischen sieben Abschiedsstadien unterschieden werden, wenn man auch die vorausschauende Trauer – den Abschied im Geiste, wenn man den Tod nahen sieht – im Ganzen mit einbezieht.

Die sieben Abschiedsphasen sind für die Angehörigen psychologisch bedeutsam; in der Halacha werden die sieben Abschiedsphasen in konkreten Vorschriften geregelt. In der mystischen Tradition entsprechen diese Phasen der Art und Weise, wie sich die Seele allmählich vom Körper entfernt.

Das Judentum basiert auf einem parallelistischen Weltbild. Das bedeutet, dass alles, was sich hier auf der Erde ereignet – im psychologischen oder physischen Sinne – ein ‘Gegenstück’ oder einen entsprechenden Impuls in höheren, geistigen Welten hat. Dies ist eine Lehre für sich, aber zugespitzt auf die sieben Abschiedsstadien, bedeutet dies folgendes für die Beziehung zwischen Körper und Seele:

Dreißig Tage vor dem Tod lösen sich die höheren Teile der Neschama (Seele) vom Körper; der transzendente Teil der Seele verschwindet in höhere Sphären. Damit verschwindet auch das “Zelem Elohim”, der G’ttliche Antlitz, aus dem Menschen.

In den letzten Stunden vor dem Ableben verschwinden die letzten Überreste der menschlichen Seele allmählich aus dem Körper.

Das eigentliche Sterben. In dieser Phase erblickt die Neschama (Seele) die Schechina, die G’ttliche Anwesenheit; der Zohar (mystische Lehre) sagt uns, dass die Nefesch – die unterste Ebene der Seele – sich nicht vom Körper löst, bis sie die Schechina gesehen hat. Dies führt zu einem intensiven Wunsch, in G’ttes Nähe zu bleiben, was zu dem physischen Tod führt. In diesem Moment beginnt die erste Trauerphase, Aninut.

Innerhalb von drei Tagen nach dem Tod bleibt eine ziemlich starke Bindung zwischen Seele und Körper bestehen. Dies drückt sich wie folgt aus 11: “Die ersten drei Tage nach dem Sterben bleibt die Nefesch sehr nah am Körper, da sie glaubt, dass sie in den Körper zurückkehren kann. Nach drei Tagen stellt die Nefesch fest, dass der Körper beginnt, sich aufzulösen – wörtlich: “Der Glanz des Gesichts beginnt sich zu verändern” – und sie verabschiedet sich schließlich vom Körper”. Auf der Grundlage des letzten haben die Chachamim – die rabbinischen Gelehrten – gesagt, dass man die Identität des Verstorbenen bis drei Tage nach dem Tod bezeugen kann, denn nach drei Tagen ist das Gesicht nicht mehr klar erkennbar12. Während dieser drei Tage ist die Phase von Awelut am intensivsten, wie die Chachamim sagten: “drei Tage zum Weinen“ 13, denn während dieser drei Tage ist die Trennung von Nefesch und Körper noch nicht vollständig vollzogen14.

Sieben Tage nach der Beerdigung findet das folgende Trennungsstadium statt: `Rabbi Jehuda sagte: „Während der Schiwa geht die Neschama zwischen dem Haus und dem Grab des Verstorbenen hin und her und trauert um den Körper. Nach sieben Tagen verschwindet die Neschama in immer höhere Sphären’ 15. Daher dauert die Awelut-Phase sieben Tage16. Nach dem Tod verbleiben am Ort des Todes sieben transzendente `Lichter” (Seelenniveaus), die sich schwerlich von dem irdischen Wohnort verabschieden können, aber andererseits auch nicht vom Körper im Grab trennen können. Deshalb „reist“ die Neschama zwischen Grab und Haus hin und her. An jedem dieser sieben Tage wird jedoch eine dieser sieben „Seelenkräfte“ oder „Lichter“ ins Grab gebracht.

Nach dreißig Tagen entfernt sich die Neschama noch weiter vom Körper weg. Der Zohar 17 sagt dazu: “Dreißig Tage lang werden Leib und Seele zusammen beurteilt”. Nach dreißig Tagen ist die Neschama vollständig im Himmel aufgenommen und der Körper verwandelt sich in einen weitreichenden Verwesungszustand. Aus diesem Grund ist in diesen Tagen teilweise Trauer klar zu erkennen, wie z.B. das Verbot des Abschneidens von Kopf- und Barthaar und des Aufbügelns von Kleidung. Für große Gelehrte und Autoritäten gibt es eine strenge Trauerperiode von dreißig Tagen, wie wir sie bei Mosche und Aharon und Rabbi Jehuda HaNassi finden18.

– Das letzte Stadium findet nach zwölf Monaten statt, wie es im Talmud 19 formuliert ist:’ Für die Dauer von zwölf Monaten existiert der Körper noch immer, und die Neschama ‘steigt auf und nieder’ zum Körper. Nach zwölf Monaten ist der Körper bereits so stark zerfallen, dass die Neschama nicht mehr zu ihm zurückkehrt. Die Bindung der Neschama an den Körper ist nach zwölf Monaten vollständig gebrochen. Die Nefesch hingegen (der Teil der menschlichen Seele, der für die tierischeren Funktionen des Lebens zuständig ist und sozusagen zwischen dem physischen Körper und der Neschama vermittelt) bleibt mit „spirituellen Fäden” mit der Ruhestätte des Körpers verbunden, wie es im Zohar 20 geschrieben steht: Wenn ein Mensch stirbt, weicht die Nefesch nicht vom Grab, durch die hier verbliebene Seele können sich die Toten miteinander unterhalten und sie wissen manchmal, was sich hier auf Erden abspielt.’

Denn für zwölf Monate bleibt ein Band zwischen Körper und Neschama. Besteht währenddessen eine leichte Form der Trauer nach dem Tod von Vater und Mutter und für große Gelehrte werden in diesem Zeitraum Trauerreden gehalten21.

3. Kohanim (Priester)

In der Tora hat der Tod für einen Kohen (Priester) eine besondere Bedeutung. In Leviticus22 steht, dass es den Söhnen und Nachkommen des Hohenpriesters Aharon nicht erlaubt ist, sich durch einen Toten zu verunreinigen, mit Ausnahme der nächsten Blutsverwandten: Mutter, Vater, Sohn, Tochter, Bruder, unverheiratete Schwester und der Ehefrau. Sterbliche Überreste können Unreinheiten (Tuma) auf vier verschiedene Weisen übertragen: durch Berührung, durch Tragen, durch Bewegung und durch das Zusammensein mit einem Verstorbenen unter einem Dach.

In einem geschlossenen Raum verbreitet der Verstorbene nur Unreinheiten innerhalb dieses Raumes. In der Praxis bedeutet dies, dass sich ein Kohen in einer Wohnung oberhalb der Wohnung, in der sich der Verstorbene befindet, aufhalten kann. In einem jüdischen Bestattungsinstitut gibt es immer einen separaten Raum für die Kohanim, der durch eine Einzäunung von den sterblichen Überresten getrennt ist. Als Vorsichtsmaßnahme untersagten unsere Weisen den Kohanim auch, sich innerhalb von vier Ellen (etwa zweieinhalb Meter) um einen Verstorbenen herum aufzuhalten, weil unsere Gelehrten so verhindert haben, dass die Kohanim versehentlich den Verstorbenen berührten. Ein Kohen muss sich also immer mindestens vier Ellen von einem Grab entfernt halten, es sei denn, das Grab ist von kleinen Mauern umgeben. Den Kohanim wird auch ein separater Platz auf dem Friedhof zugewiesen. Das Verunreinigungsverbot gilt nur für männliche Nachkommen des Hohenpriesters Aharon.

Während der Zeit, in der sich ein Kohen durch ein Familienmitglied verunreinigt, darf er sich nicht an anderen Verstorbenen oder Gräbern verunreinigen. Wenn der Verstorbene an einem Ort auf dem Friedhof begraben wird, an dem der Kohen nicht in die Nähe anderer Gräber kommt, darf er bei der Beerdigung helfen. Wird das verstorbene Familienmitglied jedoch zwischen anderen Gräbern auf der Erde beerdigt, dann muss der Kohen mindestens vier Ellen Abstand von den anderen Gräbern halten. Nach Niederländischem Brauch sprechen Kohanim während des Trauerjahres den Birkat Kohanim (Priestersegen) in der Synagoge nicht aus.