Einführung in die Trauerregeln und Trauerpraktiken Teil 7 Trauerjahr (Schana)

5.Trauerjahr (Schana)

Beim Trauern um die Eltern darf der Trauernde zwölf Monate lang nicht an festlichen Mahlzeiten teilnehmen, auch nicht Musik hören. Eine Reihe von Bestimmungen aus der Niwul-Zeit sind ebenfalls zu berücksichtigen.

1. Sitzplatzänderung in der Synagoge (Shinui makom)

Während des ganzen Trauerjahres nimmt man in der Synagoge einen anderen Platz ein. Der frühere Sinn für Religion ist nicht mehr vorhanden. Ein Jahr dauert es, um wieder auf den alten Platz zurückzukehren, der Platz vor der Begegnung mit dem Tod. Auf dem alten Platz zu bleiben, würde bedeuten, das Gegenteil des Lebens zu leugnen, davon berührt zu sein. Das Vergessen der Toten und die erneute Begegnung mit dem Leben tritt erst nach einem Jahr ein133.

Das Kaddisch, das eine Anerkennung von G’ttes Größe ist, wird etwas weniger als ein Jahr gesprochen. Aus psychologischer Sicht bedeutet dies, dass es etwa ein Jahr dauert, bis man als neuer Mensch imstande ist, wieder eine höhere Art von religiöser Beziehung einzugehen. Eine höhere, weil der Mensch mit dem Tod in Berührung gekommen ist, ihn verarbeitet hat und durch „Leiden geläutert“ wurde134. Danach kann er zu seinem alten Platz zurückkehren, nicht unberührt vom Tod, sondern bereichert durch die Konfrontation mit der Kehrseite des Lebens.

2. Das Verbot, länger als ein Jahr zu trauern

Nach einem Jahr dürfen wir nicht mehr im engeren Sinne des Wortes trauern; ein Jahr muss für einen gut begleiteten Trauerprozess ausreichen. Wir dürfen uns an den Verstorbenen erinnern, ihn vermissen, uns nach ihm sehnen, aber nicht mehr um ihn trauern. Der Verstorbene verlangt dies nicht, und zu lange zu trauern ist auch für die Angehörigen selbst nicht gut135.

3. Errichtung eins Grabsteins (Mazewa)

Es ist ein alter Brauch, einen Grabstein auf dem Grab zu errichten136. Dieser Grabstein hat verschiedene Namen, die die verschiedenen Funktionen betonen, einschließlich:

Mazewa (wörtlich: Errichtung), der Stein als Erkennungszeichen, dass eine bestimmte Person dort begraben ist, so dass man das Grab besuchen und dort davenen (beten) kann.

Nefesch (wörtlich: Seele), der Stein als Denkmal und Ankerplatz für die Seele.

Der Grabstein wird innerhalb von zwölf Monaten nach dem Tod errichtet; ein breiter Spielraum, da der Verstorbene nicht innerhalb von zwölf Monaten vergessen sein wird. In der Vergangenheit war es üblich, die Grabsteine nicht zu gravieren, weil gerade für die großen Gelehrten angenommen wurde, dass “guter Wein keinen Kranz braucht”. Heutzutage werden seine guten Taten und Lebensprinzipien in einer kurzen Inschrift erwähnt137.

Der Grabstein hat nicht allein eine religiöse Bedeutung, sondern auch eine Funktion für die Lebenden. Die Menschen sollen sich “ermuntert fühlen, über den Gräbern der Verstorbenen für die Lebenden zu beten”138, eine Stärkung der Gruppensolidarität.

Die Errichtung eines Grabsteins ist auch eine Gelegenheit, um Gefühle der Liebe für die verstorbenen Verwandten zu zeigen. Hat der Verstorbene keine Verwandten, dann ruht diese heilige Pflicht auf der Gemeinschaft. An dem Tag, an dem der Grabstein errichtet wird, geht man mit mindestens zehn Männer, darunter ein oder mehrere Gelehrte, auf den Friedhof und spricht dort eine Reihe von Gebeten, darunter Abschnitte aus Psalm 119, welche mit den Buchstaben des Jüdischen Vornamens des Verstorbenen und des Vornamens seiner Mutter beginnen. Auch ein Toter bleibt ein Mensch, seine Individualität geht nicht anonym in einer endlosen Ewigkeit auf. Trotz seiner körperlichen Abwesenheit bleiben wir mit seinem einzigartigen Charakter und seinen Idealen verbunden.

Nach längerer Zeit, manchmal einige Generationen später, geraten die persönlichen Erinnerungen an den Verstorbenen in Vergessenheit. Dann dient der Grabstein als Ankerplatz für das geliebte Familienmitglied, eine idealisierte Personifikation, ein wichtiges Bedürfnis der Gemeinschaft. Die Angst vor dem Tod wird als einer der `Suprafacts’ bezeichnet, die unser Leben weitgehend bestimmen. Ein authentisches Begräbnis soll uns im Kampf gegen die Zerbrechlichkeit unseres Lebens helfen139. Der Grabstein, auf dem die Ideale des Einzelnen wie der Gruppe stehen, bietet uns Unterstützung, um den Sinn von Leben und Tod zu erkennen.

4. Umbettung

Früher (aber auch wohl heute noch) fand oft eine Umbettung statt140. Dies geschah in der Regel, nachdem das Fleisch zersetzt war; die Knochen wurden im Familiengrab beigesetzt. Am Tag des Begräbnisses werden den Angehörigen wieder die Regeln der zweiten Phase, Awelut, in erleichterter Form, auferlegt. Sie müssen die Kleidung wieder einreißen, sich auf den Boden setzen und dürfen keine Lederschuhe tragen. Es wird keine Trauerrede gehalten, anstatt dessen werden Lobesworte und von guten Erinnerungen gesprochen.

5. Abschluss

Die Errichtung des Grabsteins und die Umbettung sind Abschlusszeremonien. Weil Trauer ein langsamer Prozess ist, ist eine Abschlusszeremonie eine gute Gelegenheit für einen weiteren Trauertag. Die Steinsetzung und die eventuelle Umbettung “können für die Familie äußerst heilsam sein”141.

Bei der Steinsetzung und der Umbettung wird dem Verstorbenen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Abschlusszeremonie hat auch einen wichtigen sozialen Aspekt. Auch die Steinsetzung und Umbettung setzen der Trauer ein Ende. Innerhalb einer klar definierten und ausreichend langen Trauerzeit können Trauervorschriften den Ausdruck von Trauer zulassen oder erzwingen, Gefühle zum Ausdruck bringen und den Prozess der Verarbeitung stattfinden lassen. Die Verarbeitung wird durch die Aussicht auf eine letzte Abschiedsmöglichkeit erleichtert. Mit der Perspektive auf eine Abschlusszeremonie wird dem traurigen Menschen bewusst, dass es einen Moment geben wird, an dem er die Äußerung von Trauergefühlen beenden muss. Vor dieser Schließung bereitet sich die trauernde Person auf die Zeit danach vor. Bei der Abschlusszeremonie selbst geht die trauernde Person eine gewisse öffentliche „Verpflichtung“ ein, die Trauer zu beenden. Er verzichtet auf seine Trauersymbole. Auch die Zuschauer folgen ihm und akzeptieren das Ende der Trauerzeit. Das ist wichtig, weil die Verlängerung der Trauerzeit manchmal durch die Umwelt gefördert zu werden scheint.

Diese Hinwendung zur Akzeptanz einer neuen Identität erscheint wertvoll, weil es oft viele Gründe gibt, wie Schuldgefühle, alte Gewohnheiten oder Angst vor dem Neuen und Unbekannten, warum überlebende Angehörige nicht bereit sind, einen neuen Status anzunehmen. Abschlusszeremonien verhindern die Verlängerung von Trauer und Kummer. In Gemeinden, in denen Abschlusszeremonien üblich sind, gibt es weniger lange Trauerprozesse als in Gemeinden, in denen es die Gelegenheit dazu nicht gibt.

Abschliessende Vorschriften scheinen den Übergang zum normalen Leben zu erleichtern. Die besondere Dauer der Trauerprozesse, mit denen Psychotherapeuten konfrontiert sind, kann zum Teil auf das Fehlen sozialer Regeln zur Beendigung der Trauer zurückzuführen sein. Deshalb beginnen Psychotherapeuten jetzt auch, zumindest in Notfällen, mit Trauervorschriften für Einzelpersonen und Gruppen142.