Kind oder Erwachsener?

Kind oder Erwachsener?

Generelle Einleitung: In unserem Wochenabschnitt findet der bekannte Streit zwischen Josef und seinen Brüdern statt. Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass es sich um sehr besondere Menschen handelte und es bei dem Streit nicht um einfache Eifersucht zwischen Brüdern ging. Es ist oft der Fall, dass wir Erzählungen aus der Tora und dem Tanach mit einem oberflächlichen und kindischen Verständnis aufnehmen, ohne darin eine tiefere Bedeutung und eventuell auch eine Botschaft für uns zu erkennen. Wenn wir uns mit unverständlichen Geschichten aus dem Tanach auseinandersetzten, dürfen wir unser begrenztes Verständnis nicht auf die G´ttliche Lehre übertragen. Sonst unterstellen wir heiligen Menschen Taten getan zu haben, welche diese sich nicht mal im Traum hätten vorstellen könnten. Mit dieser Einleitung können wir versuchen, diese komplizierten Episoden im Tanach zu verstehen und eine Botschaft für unser Leben mitzunehmen.

“Und er (Josef) war ein Knabe…”

Bereschit Kap.37, Vers 2

Die Tora beschreibt Josef als einen 17-jährigen Jugendlichen, welcher die, zumindest seiner Ansicht nach, schlechten Taten seiner Brüder ihrem gemeinsamen Vater berichtet. Josefs Brüder sind davon alles andere als begeistert und hassen ihn dafür.Warum betont die Tora nochmals den Fakt, dass Josef ein Knabe war, nachdem uns sein Alter schon mitgeteilt wurde?

Unsere Weisen lehren, dass „Na´ar“ (Knabe) in der Tora keine Bezeichnung für das Alter ist, sondern für die kindische und unreife Denkweise. Der hauptsächliche Unterschied zwischen einem Kind und einem Erwachsenen ist die Fähigkeit des Erwachsenen die Konsequenzen seiner Taten zu vorauszusehen und die Bereitschaft auf momentane, aber kleinere Vergnügen zu verzichten. Die Tora bezeichnet Josef als Na´ar, weil er nicht vorausschaute, welche Konsequenzen seine Erzählungen haben könnten.  

Vor einigen Jahren wurde eine interessante Studie durchgeführt: Bei dieser Studie wurde Kindern im Alter von 6-9 ein Marshmallow angeboten. Ihnen wurde aber gesagt, dass falls sie widerstehen und den Marshamallow nicht essen, man ihnen später drei Marshamallows geben würde. Danach verließ der Pädagoge den Raum, während das Kind mit Hilfe eines einseitigen Fensters beobachtet wurde. Das Ergebnis kam wie erwartet: Die Hälfte der Kinder gab fast sofort nach und griff nach dem Marshmallow. Einige versuchten zu widerstehen, aber nach ein paar Minuten waren auch diese machtlos und gaben auf. Nur die Wenigsten waren bereit auf das sofortige Vergnügen zu verzichten, um später mehr Genuss zu haben.

In der jüdischen Mystik wird gelehrt, dass jeder Mensch, egal welchen Alters, über zwei „Gehirne“ (Denkweisen) verfügt, den erwachsenen Verstand und den kindischen Verstand. Wenn wir die Konsequenzen unserer Handlungen voraussehen und anhanddessen kluge und ausgewogene Entscheidungen treffen, dann benutzen wir den erwachsenen Verstand. Wenn wir aber nur an das sofortige Vergnügen denken und mögliche Folgen entweder ignorieren oder überhaupt nicht in Betracht ziehen, dann bedienen wir uns der unreifen und kindischen Denkweise.

In unserem Zeitalter ist es momentan sehr in Mode auf den erwachsenen Verstand komplett zu verzichten und sich wie ein Kind zu verhalten. Die Werbe-und Entertainmentindustrie setzt darauf, dass ihre Kunden für immer Kinder bleiben, damit sie noch mehr Profit machen können. Es ist durchaus leichter einen ungeduldigen und voreiligen 30-Jähirgen zum Kauf oder Konsum eines Produkts zu überzeugen, als einen durchdachten und besonnenen Erwachsenen, sodass die Wirtschaft von dieser „Mode“ nur profitiert. Das Motto unser Gesellschaft scheint zu sein: „Bleib für immer ein Kind, übernimm keine Verantwortung und denk nicht über morgen nach!“ Menschen, die sich erwachsen (also normal) benehmen, werden verspottet und ausgelacht.

Diese Weltanschauung beeinflusst auch uns und besonders im Judentum ist es wichtig die erwachsene Denkweise beizubehalten, auch wenn die moderne Gesellschaft etwas anderes propagandiert. Es gibt nichts Gefährlicheres für die Praktizierung des Judentums als die kindische Denkweise, denn wie sollen spirituelle Werte und Errungenschaften angestrebt und geschätzt werden, wenn dem ungeduldigen „Kind“ kein momentaner Genuss und Belohnung präsentiert werden kann? Nur das erwachsene Verständnis kann nachvollziehen, dass es sich manchmal lohnt auf etwas Kleineres zu verzichten, um später etwas Wertvolleres und Besseres zu bekommen.