Lehren aus Keriat Jam Suf, die Spaltung des Schilfmeeres – das Ende der Sklaverei

Lehren aus Keriat Jam Suf, die Spaltung des Schilfmeeres – das Ende der Sklaverei

Welche Lehren können wir aus der Spaltung des Schilfmeeres am siebten Tag Pessach, mit der die vollständige Befreiung ihren Anfang nahm, ziehen?

1.     Dankbarkeit: Kein bewaffneter Konflikt mit Ägypten

„Bewaffnet kamen die Bné Jisraël aus dem Land Ägypten herauf“ (Schemot/Ex. 13:18). Warum hat G“tt den Bné Jisraël nicht befohlen, einen Kampf mit den Ägyptern am Ufer des Schilfmeeres zu führen?

Die Ägypter hatten den Bné Jisraël immerhin am Anfang viel Gastfreundschaft geschenkt, die allerdings später in Sklaverei und Unterdrückung umschlug. Wir dürfen nicht in den Brunnen spucken, aus dem wir getrunken haben. Darum hat G“tt uns auch befohlen (Dewarim/Deut. 23:8), die Ägypter nicht zu verabscheuen, „denn du bist ein Fremdling in seinem Land gewesen.“ Dankbarkeit ist eine wichtige Eigenschaft. Aharon musste deswegen den Nil mit Blut und Fröschen schlagen. Mosche durfte nicht, weil er im Nil Schutz fand als seine Mutter ihn vor den ägyptischen Soldaten verbarg. Dankbarkeit ist für viele heutzutage ein schwieriger Begriff. Das Judentum weist immer wieder darauf hin, wir können auf Dankbarkeit nicht verzichten. Durch Dankbarkeit entsteht eine bessere Gesellschaft, Tikun olam.

2.     G“ttes Wege sind unergründlich

Meistens geht man davon aus, dass das Schilfmeer sich über die ganze Breite, vom einen Ufer bis zum anderen Ufer spaltete und dass die Juden so ihre Freiheit erwarben. Maimonides (1135-1204) ist der Meinung, dass das Meer sich nach der Anzahl der Stämme in zwölf Wege spaltete. Es gab also zwölf untiefe Stellen im Schilfmeer. Diese untiefen Durchgänge hatten aber die Form eines Halbkreises. Die Juden kamen also auf der Seite aus dem Schilfmeer, auf der sie auch hineingegangen waren. Oft verstehen wir G“ttes Wege nicht. Aber wir können sicher sein, dass alles seine Bedeutung und seinen Grund hat.

3.     Mut und Aufopferungsbereitschaft

In Schemot/Ex. 14:22 steht geschrieben: „Und dann gingen die Bné Jisraël durch das Meer im Trocknen“. Der Midrasch fragt: „Wenn man im Meer ankam, weshalb heißt es dann ‚im Trocknen‘? Wenn es trocken war, weshalb heißt es dann Meer?“. Hieraus lernt man, dass das Meer sich erst spaltete als ihnen das Wasser bis zum Hals stand. Ein wichtiger Gedanke! Man muss Mut und Aufopferungsbereitschaft zeigen. Ohne sie geht nichts im Judentum!

4.     Worten sollten Taten folgen

Im Talmud (B.T. Sota 36b) meint Rabbi Meïr, dass als die Juden am Ufer des Schilfmeeres standen, alle Stämme einander zuriefen: „Ich gehe als Erster ins Meer“.

Da sagte Rabbi Jehuda zu Rabbi Meïr: „So ist es nicht geschehen! Die vom einen Stamm riefen, dass sie nicht als Ersten ins Meer springen würden und die vom anderen Stamm riefen, dass sie nicht die Ersten sein würden. Daraufhin sprang Nachschon ben Aminadav als Erster ins Meer“.

Es gibt eigentlich keine Meinungsverschiedenheit zwischen Rabbi Jehuda und Rabbi Meïr. Rabbi Meïr meint, dass jeder wirklich ernsthaft äußerte, dass er als Erster ins Meer springen würde. Rabbi Jehuda stimmt zu, dass sie das anfangs tatsächlich alle riefen, aber als es in die Tat umgesetzt werden sollte, jeder zu zweifeln und sich zu drücken begann. Auf einmal sollte der Andere als Erster ins Wasser gehen, bis Nachschon die Initiative ergriff und tatsächlich ins Meer sprang. In unserer Gesellschaft ein großartiger Denker, der in ganzen Sätzen spricht! Auf Worte sollten Taten folgen!

5.     Natur wichtiger als Wunder

Nach der Spaltung des Schilfmeeres steht geschrieben (Schemot/Ex. 14:27): „Und Mosche neigte seine Hand über das Meer, da kam das Meer gegen Morgen zurück zu seiner vorigen Gewalt.“ Raschi erklärt, dass das Meer seine ursprüngliche Kraft wiedergewann.

Dies ist schwer zu verstehen. Es ist doch logisch, dass das Meer zu seiner Ursprungskraft zurückkehrte. Warum muss die Tora es ausdrücklich erwähnen? Wenn ein Staudamm das Wasser zurückhält, strömt das Wasser, sobald die Sperre aufgehoben wird, mit gewaltiger Kraft in sein ursprüngliches Flussbett zurück. Jedoch nicht so nach der Keriat Jam Suf. Als Mosche die Aufforderung bekam, seine Hand gegen das Meer zu strecken, kehrte das Meer zu seiner ursprünglichen Kraft zurück, ohne in eine brausende, schäumende Wassermasse zu entarten.

Eine völlig andere Erklärung ist auch möglich. Möglicherweise will die Tora genau das Gegenteil betonen. Obwohl die „tiefen Abgründe in der Mitte des Meeres gefroren waren“ und Eis bekanntlich nur langsam schmilzt, gewann das Meer doch schnell seine ursprüngliche Kraft zurück, um den Juden zur Hilfe zu kommen.

Wie dem auch sei, die Tora zeigt, dass der natürliche Zustand aller Elemente der meist bevorzugte ist. Wenn G“tt die Natur außer Kraft setzt, dann tut Er dies so wenig einschneidend wie möglich. Das Wasser kehrte ohne viel Aufheben zu seiner ursprünglichen Kraft zurück.

Eine wichtige Lektion für unseren Alltag. Das Judentum soll unter den meist geläufigen und alltäglichsten Umständen erlebt und bezeugt werden. Wunder sind schön, aber im Judentum dreht sich alles um die Heiligung der natürlichen Schöpfung.

6.     Späte Einsicht

Erst gegen Ende der Keriat Jam Suf, als das Meer sie verschlang, realisierten sich die Ägypter, dass „Ich G“tt bin“. Warum erst so spät? Bis dahin hatte das Meer sich schon gespalten, gingen die Juden auf trockenem Boden durch das Schilfmeer, was weitaus ein größeres Wunder war als dass das Meer seine natürliche Gestalt wieder annahm und die Ägypter ertranken. Warum sahen die Ägypter nicht früher ein, dass sie es mit einem Wunder zu tun hatten und dass sie G“tt als Herrscher über der Natur anerkennen sollten? Der Neziw aus Wolozhyn sagt, dass die Ägypter der Meinung waren, dass das Meer manchmal Ebbe aufwies. Sie dachten, dass die Juden bei Ebbe das Meer überquerten und deshalb auf trockenem Boden liefen. Genau in dem Moment, als die Ägypter sich realisierten, dass sie vom Wasser überfallen wurden und es eine enorme Flut gab, erst da begriffen sie, dass ein großes Wunder geschah, um die Bné Jisraël zu retten.

7.     Absichern und Rückversichern?

In Schmot/Ex. 14:22 steht geschrieben: „Die Bné Jisraël gingen durch das Meer im Trocknen“. Danach steht umgekehrt in Schemot/Ex. 14:29: „Und die Bné Jisraël gingen im Trocknen mitten durch das Meer“.

Etwas Wichtiges lehrt uns dies. Wenn wir in einer schwierigen Lage sind, stehen wir gewissermaßen „mitten im Meer“. Doch sollten wir uns realisieren, dass wir mit einem Wimpernschlag die Hilfe von Oben herbeiführen können. Stürmisches Wasser kann in kürzester Zeit wieder zum „Trockenen“ werden. Andererseits, wenn der Mensch glaubt, dass er stark dasteht – mit beiden Beinen auf dem Boden steht oder seine Schäfchen im Trockenen hat oder es scheint, als ob er es durch seiner Hände Kraft ausgerichtet hat – just dann muss er sich realisieren, das das Trockene sich ganz plötzlich in Meer und Instabilität verwandeln kann. Ein sehr wichtiger Gedanke in unserer Zeit von Absichern und Rückversichern!