Ein Beispiel von kriminologischer Einsicht – PARASCHA MATOT-MASSE

Ein Beispiel von kriminologischer Einsicht

Die Leviten bekamen achtundvierzig Orte und jeweilig dazugehörende umliegende Landflächen. Alle achtundvierzig Levitenorte waren auch Zufluchtorte, aber sechs davon waren Asylorte, in denen Menschen, die Morde oder Totschlag begangen hatten, sicher verbleiben konnten – selbst ohne Miete zu bezahlen, bis ihre Angelegenheit vor dem Bejt Din (dem Gerichtshof) behandelt wurde. Drei dieser sechs wichtigsten Zufluchtorte lagen auf der einen und drei auf der anderen Seite des Jordans.

eine kleine Bildungslehre

In den achtundvierzig Zufluchtorte waren Mörder nicht vogelfrei. Das Bejt Din ließ diese Flüchtlinge für einen ehrlichen Prozess herbeiholen. Erwies es sich, dass sie den Mord vorsätzlich begangen hatten, erfolgte in sehr extremen Fällen die Todesstrafe. Hatte man unglücklicherweise den Tod eines anderen herbei geführt oder verursacht, musste man in einem Zufluchtort wohnen bleiben. Es ist an zu nehmen, dass die Thora beabsichtigt, diesem Mann oder dieser Frau, die vielleicht zu wenig Respekt vor dem Leben empfunden hatten, eine kleine Bildungslehre über die Jüdische Ansicht über die Wichtigkeit des menschlichen Lebens zu geben.

Diese „Bildungslehre“ oder Übung zum Erlangen einer Empfindung fand in einer geweihten, fast heiligen Umgebung statt. Er oder sie wurden von Leviten umringt, die alle durch die Bank die Lehrer und geistigen Leiter des Volkes waren. Seine Familie und Lehrer gingen mit ihm mit. Er wurde nicht von seiner Familie oder spirituellen Umgebung abgeschnitten. Ein Beispiel von kriminologischer Einsicht.

Herrschaft des Rechts ohne polizeiliche Hilfe

Innerhalb eines Zufluchtortes konnte man sich frei bewegen. Außerhalb des Zufluchtortes blieb der unbeabsichtigte Totschläger jedoch für einen, der Blutrache an ihm vollziehen wollte, vogelfrei. Vielleicht zeigt uns die Thora hiermit eine Möglichkeit, ohne polizeiliche Hilfe dafür zu sorgen, dass der Totschläger in seiner ihm schützenden Umgebung bleiben soll.

Die Tora zeigt uns jedenfalls, wie wichtig sie ein menschliches Leben achtet.

Man würde bis zum Äußersten gehen, um dafür zu sorgen, dass es keine Unglücke oder Ereignisse mit tödlichem Ausgang geben könnte. Denn die Bestrafung ist groß: im Zufluchtsort verbleiben bis zum Tode des Hohepriesters.

Die Mütter der Hohepriester backten für die „inmates“ immer herrliches Gebäck. Sie wollten um jeden Preis vorbeugen, dass die „Gefangenen“ des Zufluchtortes sich unwohl fühlen würden und eventuell dafür Dawwenen (Beten), dass ihre Söhne sterben sollten.

Weshalb war das Ende der „Strafe“ eigentlich vom Tod des Kohen Hagadol abhängig?

1. Abrabanel (vierzehnhundertsiebenunddreißig bis fünfzehnhundertacht) verweist auf die Psychologie des Sünders. Wenn jemand Sorgen hat, verblasst sein persönliches, ihn ereiltes Schicksal bei nationalen Tragödien. Der Tod des Kohen Hagadol ist ein nationaler Trauertag. Die Wut des potentiellen Bluträchers kommt bei diesem Volksdrama einigermaßen zum Einhalt. Seine Emotionen über seinen Verlust kühlen ab und für den Totschläger ist es jetzt sicherer, den Zufluchtort zu verlassen.

2. Rabbi Owadja di Sforno (sechzehntes Jahrhundert) fügt hier noch hinzu, dass bei jedem Totschlag unterschiedliche Faktoren und Gründe eine Rolle spielen. Nicht jeder unbeabsichtigte Mörder bleibt genau so lange. Wir dürfen es der G“ttlichen Einsicht überlassen und darauf vertrauen, dass jeder, je nach der Schwere seiner Schuld und Verantwortung, die entsprechende Zeit verbleiben musste.

Vielleicht war es auch gut so, dass er sich in seiner ursprünglichen Gemeinde nicht mehr freiheitlich bewegen durfte. Er könnte Familienmitgliedern des Opfers begegnen, die ihm nach dem Leben trachten könnten. Eine „Aus-Zeit“ tut nun mal allen Parteien gut.

Kabbalistische Erklärer erkennen im unabsichtlichen Mörder die Jeser Hara, den Bösen Trieb in jedem Menschen. Der Zufluchtort ist die Thora. Der Bluträcher – der Satan, der eine andere Seite des Bösen Triebes ist – fordert den Tod des Sünders. Möchte man vor Verführung, Lust, Leidenschaft, Aggression und Wut gerettet werden, dann wende man sich der Thora zu. Durch ernsthafte Zuwendung zu unseren höheren Volksidealen schmelzen unsere niedrigen Triebe dahin, wie Schnee bei Sonnenwärme.