Sie wollten einen anderen Mosche – Parascha Ki Tisa

Sie wollten einen anderen Mosche – Parascha Ki Tisa

Eine der an den schwersten verständlichen Geschichten in der Tora steht in unserem Wochenabschnitt Ki Tisa. Das jüdische Volk hatte direkt von G”tt gehört:

„Du sollst dir kein Bild machen und keine Darstellung von dem, was im Himmel oben, was auf der Erde unten oder was im Wasser unter der Erde ist“ (Schemot/Ex. 20:4).

Nur vierzig Tage später baute es ein goldenes Kalb und sagte dazu:

 „Das ist dein Gott, Israel, der dich aus dem Lande Ägypten geführt hat“ (Schemot/Ex. 32:4).

Wie kann man dieses Verhalten des Volkes verstehen?

Im Laufe der Geschichte haben sich viele Gelehrte mit dieser Frage auseinandergesetzt – mit der Tendenz, die Fehler des Volkes abzuschwächen.

Unsere Weisen im Midrasch haben in den Worten G”ttes an Mosche einen Hinweis darauf gesehen, dass nur eine bestimmte Gruppe innerhalb des Volkes das goldene Kalb wollte (Schemot Rabba 42:6).

Als Mosche auf dem Berg Sinaj war, sagte G”tt nämlich zu ihm:

„Geh, steige hinab; denn dein Volk, das du aus dem Lande Ägypten geführt hast, hat schwer gesündigt“ (Schemot/Ex. 32:7).

Was meint hier „dein Volk“? Laut unseren Weisen bezieht sich das auf den „Erew Raw“, die Ägypter, die mit dem Volk Israel aus Ägypten auszogen.

Entgegen dem Wunsch G”ttes hatte Mosche diesen Menschen gestattet, das Volk Israel zu begleiten, aber sie pflegten ihre alte Kultur, den Götzendienst, weiter.

Diese Erklärung wirft die Frage auf, warum G”tt dem ganzen Volk zürnte; die Antwort lautet, dass G”tt erwartete, dass sich das Volk gegen den Wunsch des „Erew Raw“ wehren und wenigstens protestieren würde – was aber nicht geschah.

Einen anderen Weg, die Fehler des Volkes zu verstehen, haben der Ramban (und mehrere andere Kommentatoren nach ihm) gewählt. Er sieht in den folgenden Versen den Schlüssel zu der ganzen Episode:

Als aber das Volk sah, dass Mosche säumte, vom Berg herabzukommen, da versammelte sich das Volk um Aharon, und sie sprachen zu ihm: „Auf, mache uns einen Gott, der vor uns einher ziehe! Denn dieser Mann Mosche, der uns aus dem Lande Ägypten geführt hat – wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist“. (Schemot/Ex. 32:1-2)

Laut dem Ramban war der Wunsch des Volkes nicht etwa, einen anderen G”tt zu haben, sondern einen Ersatz für Mosche Rabbenu als Vermittler zwischen ihnen und G”tt: „Sie wollten eine anderen Mosche und sagten, der Mosche, der uns den Weg von Ägypten bis hierher gezeigt hat, ist uns verloren gegangen; lasst uns einen anderen Mosche machen, der uns durch seine Hand auf G”ttes Befehl den Weg zeigt“ (Ramban zu Schemot/Ex. 32:1).

Derjenige, der das jüdische Volk am meisten entschuldigt hat, war R’ Jehuda Halevi in seinem philosophischen Werk Kusari.

Nach seiner Meinung entsprang der Wunsch des Volkes, eine Gestalt zu schaffen, dem inneren Bedürfnis, sich G”tt zu nähern. Sie wollten G”tt nicht ersetzen, sondern suchten einen Weg, Ihm zu dienen. Worin lag ihr Fehler? R’ Jehuda Halevi erklärt das so:

Mit jener Sünde traten sie nicht aus der Anbetung G’ttes, ihres Befreiers aus Ägypten heraus; es war ein Ungehorsam gegen gewisse Gebote desselben.

G”tt nämlich hatte Bilder verboten, und sie machten ein Bild, während sie hätten warten und nicht selbst etwas machen sollen, an das sie sich wenden und dem sie nachgehen wollten, mit Altären und Opfern. (Kusari 1:97)

Auf dieser Grundlage erklärt R’ Jehuda Halewi den Unterschied zwischen den Keruwim, den beiden Figuren auf der Bundeslade im Tempel, und dem goldenen Kalb:

Die Keruwim wurden von G”tt befohlen, das Kalb nicht. Wir sollen uns also G”tt nur auf Wegen nähren, die Seinen Anweisungen entsprechen;

jede menschliche Erfindung auf diesem Gebiet ist ein Fehler, so wie die Sünde des goldenen Kalbs.

Alle diese Deutungen stehen aber im Gegensatz zur einfachen Bedeutung der Verse. Das Volk sagte doch ausdrücklich zu dem goldenen Kalb: „Das ist dein Gott, Israel“.

Noch deutlicher sind die folgenden Psalmverse:

„Machten sie doch ein Kalb zu Chorew [d.h. am Sinaj] und warfen sich vor einem Gussgebilde nieder; vertauschten ihre Ehre *d.h. G”tt mit der Gestalt eines Rindes, eines Gras essenden Tieres! Hatten G”ttes, ihres Helfers, vergessen, der so Großes in Ägypten geübt. (Tehillim Psalmen 106:19-21)

Auch nach den meisten Midraschim unserer Weisen trug das Volk eine große Schuld; beispielsweise heißt es, dass deshalb, weil das Volk damals Götzendienst getrieben hat, jede nachfolgende Generation dafür zu einem Teil bestraft wird (Eicha Rabba 1).

Nun stellt sich wieder die Ausgangsfrage, wie das jüdische Volk auf eine so niedrige Stufe sinken konnte.

Zu einer möglichen Antwort führt ein psychologischer Gedanke des Rambams in seinem Werk „Führer der Unschlüssigen“ (Moreh Newuchim 3:32). Er meint, dass Menschen nicht durch ein einmaliges Erlebnis von Grund auf verändert werden –

nicht einmal eine Botschaft, die sie direkt von G”tt hören, wird sie plötzlich von Götzendienern zu Monotheisten verwandeln. Die großartige Offenbarung G”ttes am Berg Sinaj traf das Volk unvorbereitet.

Diese Offenbarung war zu diesem Zeitpunkt nötig, um dem Volk den Weg G”ttes zu zeigen und die Prophetie Mosches zu bestätigen, aber sie konnte die innere Verbindung des Volkes mit der ägyptischen Kultur nicht sofort ändern.

Dafür war ein langer stufen-weiser Lernprozess nötig, den es ja dann während der langen Wanderung durch die Wüste tatsächlich gab.

Ein tiefer Glaube an G”tt kann nicht in einem Tag erreicht werden. Vielmehr erreicht man erst in einem inneren Aufbauprozess durch Lernen und das Sammeln von Lebenserfahrung eine innerliche und reine Beziehung zu G”tt.