Suizid und Judentum

Suizid und Judentum

In einem Buch zur Suizidprävention berichtet der Neurologe Dr. J.J.C. Marlet, dass es in den Niederlanden eine fragwürdige soziale Toleranz in Bezug auf Selbstmord gibt: “Todesanzeigen von Selbstmördern werden oft als Hommage formuliert, als Abschied von einem heldenhaften Freund. Auf der anderen Seite dieser katastrophalen Medaille stehen ebenso oft verpasste Gelegenheiten und Missverständnisse, Verzweiflung und Angst vor dem Leben, abgesehen von der Niederlage von Familienmitgliedern und zahlreichen unbeantworteten Fragen anderer Beteiligter. Er wies ferner auf das Phänomen hin, dass Filme und Dokumentationen über Selbstmord oder Zeitungsberichte auf den Titelseiten zu einer dramatischen Zunahme des Selbstmordes bei jungen Menschen führten: “Diese Veröffentlichungen sind manchmal der letzte Tropfen auf den Wassereimer, der Jugendlichen, welcher überläuft. Selbstmord senkt die Schwelle und tritt daher in Clustern auf.” In den Niederlanden wurden 1987 zwischen 4.000 und 5.000 Selbstmordversuche bei jungen Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren unternommen. Der Leidener Forscher C.W.M. Kienhorst errechnete, dass jedes Jahr einer von 275 männlichen Schülern und eine von 106 weiblichen Schülern eine gezielte Handlung durchführt, um sich das Leben zu nehmen (Kienhorst, C.W.M., Suïcidaal gedrag bij jongeren, onderzoek naar omvang en kenmerken, Diss. Leiden 9 juni 1988).

Eine 1981 auf Ersuchen einer Arbeitsgruppe des EWG-Untersuchungsausschusses durchgeführte Studie ergab, dass in den Ländern der EEG jährlich schätzungsweise 1.400.000 Selbstmordversuche stattfanden. In der Alterskategorie ab 15 Jahren gaben vier bis fünf Prozent der Befragten an, mindestens einmal einen mehr oder weniger schweren Selbstmordversuch unternommen zu haben. Die Zahl der Selbstmordversuche nimmt stetig zu.

Alter                                                     Mann                                     Frau

1-14 Jahre                                            0,6 –

15-29 Jahre                                         9,5                                        10,4

30-49 Jahre                                          6,8                                          7,1

50-64 Jahre                                          1,7                                          2,3

65-74 Jahre                                          0,6                                           0,7

älter als   75                                          0,4                                         0,2

Tabelle 1: Selbstmord als Prozentsatz aller Todesfälle in der betreffenden Altersgruppe (Social Indicators for the European Community, 1960-1978, Brussels).

Aus diesen Zahlen geht hervor, dass die meisten Selbstmordversuche vor 34 Jahren durchgeführt wurden.

Todesursache                                       Mann                           Frau

Verkehr                                                         40,3%                       29,9%

Krankheit                                                      11,0%                        17,8%

Suizid                                                            9,5%                         10,4%

Herzkrankheit                                                1,1%                           0,9%

Tabelle 2: Haupttodesursachen in der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen (Social Indicators for the European Community, 1960-1978, Brussels).

Selbstmordverhalten ist schwer zu erklären. Psychologen und Soziologen waren nicht in der Lage, eine eindeutige Persönlichkeitsstruktur oder eine einzige soziale Konstellation zu etablieren, die das Selbstmordverhalten vorgeben würde. Dennoch werden drei wichtige Faktoren identifiziert, die die Wahrscheinlichkeit von Selbstmordattentaten erhöhen. Es gibt

·      biologische,

·      psychologische und

·      soziologische Faktoren.

Schwere körperliche Erkrankungen, biochemische oder Stoffwechselstörungen sind wichtige Risikobedingungen für Suizidverhalten. Körperliche Behinderungen können sich so negativ auf das Selbstbild auswirken, dass Selbstmord wahrscheinlicher wird. Der psychologische Faktor hängt hauptsächlich mit der Lebensphase wie der Pubertät zusammen, in der viele Probleme auftreten können. Das soziale Umfeld des Jugendlichen ist besonders wichtig. Selbstmordgefährdete Jugendliche sind relativ viel häufiger mit übermäßigem Alkohol- oder drogenkonsumierenden oder selbstmordgefährdeten Erwachsenen in Berührung gekommen als Jugendliche, die keinen Selbstmord begehen.

Darüber hinaus ist die Adoleszenz eine Entwicklungsphase, in der Identität und Selbstverständnis geformt werden müssen. Wenn ein stark negatives Selbstbild vorherrscht, ist Selbstmord wahrscheinlich. Soziologische Faktoren sind Probleme in den wichtigsten Gruppen, zu denen der Jugendliche gehört, wie seiner Familie, Schule oder Gruppe von Gleichaltrigen. Auch hier kann man an problematische und bedrohliche gesamtgesellschaftliche Entwicklungen denken. Wichtige Variablen und Faktoren sind hier die Arbeitslosigkeit, die Scheidung, die Zahl der Morde in einem größeren Umfeld und der Anteil der Frauen, die in einem Beruf außerhalb des Hauses arbeiten (Sainsbury P., Baar, A.E. Jenkins J., 1981 Suïcide trends in Europe, WHO Copenhagen; Diekstra R., De opgroeiende dood, zelfdoding door jongeren, AMBO boeken Baarn, 1984, ISBN 90 263 0634 2).

Kein Weg zurück

Ein Mörder kann sein Verbrechen bereuen und versuchen, die Folgen seines Handelns so weit wie möglich zu mildern. Ein Selbstmörder ist dazu nicht in der Lage. Ein wirksamer Trauerprozess für die Angehörigen eines Selbstmörders ist kaum möglich. Anschuldigungen gegen den Selbstmord und Selbstbeschuldigungen der Angehörigen verhindern und verzögern den Trauerprozess erheblich.

Ietje (26) spricht, dessen Ehemann selbst seinem Leben ein Ende setzte:

“Wenn es ein Unfall gewesen wäre, wenn er getötet worden wäre, wenn er eine Krankheit gehabt hätte … alles, alles wäre besser zu akzeptieren gewesen als dies. Das alles brauchte er nicht mehr. Dass er nicht mehr da sein wollte, bei mir und bei den Kindern. Sie sagen: Wer Selbstmord begeht, ist krank. Sie sollten dies nicht gemäß den normalen Standards bewerten. Ich stehe auf und gehe damit ins Bett. Warum hat er es getan? Warum er nicht darüber gesprochen hat. So etwas macht man nicht aus einer Laune heraus. Damit muss man lange herumlaufen. Hat er zu Hause den Raum, in dem ich mit ihm saß, darüber nachgedacht? Als wir am Tisch saßen. Vielleicht, wer weiß, wie lange es schon um uns herum ist, das drohende Schwarz, was er vorhatte. Wie kann man so etwas tun? Wie kannst du? Wie konnte er das schaffen? Und der Weg. Nein, darüber möchte ich nicht reden. Ich möchte nicht, dass du darüber schreibst, wie es passiert ist. Nur dass es passiert ist, spielt eine Rolle. Es ist wichtig, dass ich ihn nicht selbst gefunden habe. Ich denke anders … Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ob man über so etwas hinwegkommen könnte. Man denkt auch: Es ist meine Schuld. Ich konnte ihm nicht geben, was er brauchte. Es war nicht genug. Die Kinder, ich selbst, es war nicht genug zu leben. Das sind Worte, Gedanken, die dich verrückt machen können. Wir konnten ihm nicht genug geben. Wir waren es nicht wert, dafür zu leben. Nein, natürlich sagst du nochmal, dass ich das nicht so sehen soll. Dass da etwas an ihm war. Weißt du, als er mich brauchte, konnte ich ihm nicht helfen.”

Balanceselbstmord

Es gibt ein Sprichwort dass “Ein Selbstmörder kein Recht hat auf einen Anteil an der zukünftigen Welt”. Diese Aussage basiert auf der Idee, dass diejenigen, die ihre Pflichten in dieser Welt wissentlich vernachlässigen und sich durch einen kaltblütigen Selbstmord gegen die Oberste Herrschaft G’ttes auflehnen, nicht an einer g-ttlichen Belohnung im Jenseits teilnehmen können.

Ein vorsätzlicher Selbstmord hat auch Konsequenzen für die Angehörigen. Um die Trauerbestimmungen einzuhalten, muss zunächst festgestellt werden, was als tatsächlicher Selbstmord für die Halacha (für jüdisches Gesetz) anzusehen ist. Es gibt nie und nimmer eine Erlaubnis, Selbstmord zu begehen. Trotzdem wird die Einstufung als “Selbstmord” so eng ausgelegt, dass die nächsten Angehörigen nur selten mit den negativen Folgen eines echten Selbstmordes konfrontiert werden.

In der Halacha wird man nur dann als Selbstmörder gebrandmarkt, wenn zweifelsohne klar ist, dass der Selbstmord ganz absichtlich stattgefunden hat (Balance-Selbstmord).

Kriterien

Der Rabbi, der darüber entscheiden muss, muss in der Lage sein, die genaue Todesursache zu bestimmen und auch ein klares Bild von der Stimmung des Selbstmordattentäters zu haben.

Als allgemeine Richtlinie für die Feststellung eines Selbstmordgleichgewichts gibt die Halacha dem Entscheidungsträger die folgenden Kriterien:

1. Gibt es eine Chance, wenn auch so gering, dass der Verstorbene (von jemand anderem) ermordet wurde und seine Hand nicht wirklich an sich selbst gelegt hat?

2. Kann man davon ausgehen, dass der Selbstmord nicht ganz im Einklang mit dem Selbstmörder stand?

3. Besteht die Möglichkeit, dass der Selbstmörder seine Tat bereut, wobei er selbst Hand angelegt hat?

Generell kann gesagt werden, dass Selbstmord nach halachischer Auffassung nur dann anzunehmen ist, wenn der mutmaßliche Selbstmordattentäter sich absichtlich als lebensberaubt erklärt und die Tat direkt auf das Wort gesetzt hat. Daraus folgt, dass jemand, der von einem Balkon springt oder der sich selbst erschossen hat und mit einer Waffe in der Hand gefunden wird, nicht als Selbstmörder gilt. Auch wenn jemand in einem von innen verschlossenen Raum aufgehängt aufgefunden wird, fällt er – halachisch gesprochen – nicht in die Kategorie des Selbstmordes, weil er möglicherweise in einem Geisteskrankheitszustand war.

Milde Einschätzung

Die Chachamim (Weisen) waren in ihrer Einschätzung gegenüber den Angehörigen besonders mild: Selbst wenn jemand angab, dass sie sich selbst erschießen oder vom Dach springen würden und einige Zeit später tot aufgefunden würden, muss der rabbinische Entscheider den Selbstmord nicht mit seiner Tat in Verbindung zu bringen. Es könnte argumentiert werden, dass einige Leute theatralisch übertreiben, tatsächlich nur ein Signal an die Umwelt senden oder auf diese hysterische Weise um Hilfe bitten, aber nicht wirklich vorhatten, sich umzubringen.

Außerdem könnte es sein, dass ihn jemand anderes vom Dach gestoßen hat. Ohne eine verbindliche Verbindung zwischen dem Urteil und der Selbstmordhandlung muss die Entscheidungsbehörde nicht von Selbstmord ausgehen. Auch wenn ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Urteil und der Tat besteht, muss der Selbstmörder sich dessen voll bewusst gewesen sein und es darf keine Gelegenheit gegeben haben, den beabsichtigten Selbstmord zwischen dem Urteil und der Tat zu bereuen. Letzteres gilt für den Fall, dass ein Brief gefunden wird, in dem der Selbstmörder ausdrücklich und bewusst erklärt, dass er sich das Leben nehmen wird. Vielleicht hatte er nach dem Schreiben des Briefes Gewissensbisse und starb erst später in einem Anfall der Verwirrung. Vielleicht wurde er von jemand anderem getötet. Auch nach dem Selbstmord gibt es noch Raum für Reue und Bedauern. Dies ist der Fall, wenn der Tod nicht unmittelbar nach der Selbstmordaktion eintritt. Wenn jemand erklärt, dass er sich selbst ertränken wird, und die Tat dem Wort hinzufügt, kann immer noch davon ausgegangen werden, dass er in seinem Todeskampf um seine tödliche Tat Reue verspürte. Gleiches gilt für jemanden, der ein langsam wirkendes Gift genommen hat. Teschuva, Reue, bleibt immer möglich!

Mildernde Umstände

Eine Reihe mildernder Umstände und Argumente werden in den Werken der Poskim – vorgebracht. In Besamim Rosh heißt es beispielsweise, dass jemand, der in einer Krisensituation Selbstmord begeht, nicht in die Kategorie des Selbstmordes eingestuft werden kann. Andere große Halachisten, wie Rabbi Mosche Isserles (Darché Mosche 345), glauben, dass ein echter Selbstmord nur in Betracht gezogen werden kann, wenn der Täter im Voraus gewarnt wurden, dass Selbstmord verboten ist, und die Hauptstrafe dafür (im Olam Haba – das Jenseits) ihm klar mitgeteilt wird.

Obwohl die beiden letztgenannten Meinungen nicht von anderen Halachisten vertreten wurden, kann die Entscheidungsbehörde diese mildernden Umstände in ihre Entscheidungen einbeziehen, wenn andere Umstände darauf hindeuten, dass nicht alle Voraussetzungen für einen – Halachichen – Suizid erfüllt sind. Andere halachische Behörden geben ebenfalls an, dass jemand, der sich aus Angst vor Folter und dergleichen umbringt, nicht als Selbstmörder gilt.

Die halachischen Auswirkungen von Selbstmord auf die Angehörigen

Sobald feststeht, dass es sich um einen echten Selbstmordfall handelt, muss der Rabbiner entscheiden, inwieweit Dinej Awelut – die Trauergesetze – eingehalten werden müssen. Ob bei einem tatsächlichen Selbstmord die Trauergesetze (vollständig) eingehalten werden sollten, ist eine Frage, der sich insbesondere die großen mittelalterlichen Poskim – Entscheider – widersetzen. Die Gefühlsambivalenz der Angehörigen spiegelt sich – wenn auch auf einer ganz anderen Ebene – in den Werken und Ansichten der Entscheidungsträger wider.

Die Hauptregel bei der Einhaltung der verschiedenen Trauergesetze und -bräuche im Selbstmordfall besagt, dass alle gesetzlichen Bestimmungen zur Ehre der Lebenden, der Angehörigen, eingehalten werden müssen. Alle gesetzlichen Bestimmungen, die sich nicht auf die Ehre der Hinterbliebenen, sondern auf die Ehre der Verstorbenen erstrecken, müssen von den Umstehenden nicht beachtet werden.

Der Wert des Lebens

Der kaltblütige Selbstmörder konnte den Wert des Lebens nicht einschätzen. Diese Person war nicht in der Lage, den Zweck, für den sie geschaffen wurde, zu verstehen oder zu schätzen. Bis auf die eindeutigen Krankheitsfälle war der Selbstmörder nicht in der Lage, seinem Leben Substanz zu verleihen. Der Mensch ist berufen, an jedem Tag und in jedem Moment etwas Positives aus seinem Leben zu machen. Die Tora gibt dem Menschen die Wahl und gibt jedem Menschen den freien Willen, zwischen Gut und Böse, Leben und Tod zu wählen: “Siehe, ich präsentiere dir heute Leben und Gutes, aber auch Tod und Böses” (Deut 30: 15-20). Die wichtigste Aufgabe des Menschen ist es, aus seinem Leben etwas “Gutes” zu machen und seine Zeit nicht zu verschwenden. Ein mittelalterlicher Gelehrter weist auf die merkwürdige Tatsache hin, dass die meisten Schöpfungsakte in der Tora so stattfanden: “Und G’tt sah, dass es gut war.” Dieser Satz wird in der Schöpfung des Menschen nicht erwähnt, weil das Gute des Menschen nicht so sehr in seiner Geburt liegt, sondern sich im Laufe seines restlichen Lebens entwickeln muss. Der Mensch muss während seines Lebens das Gute in seiner Schöpfung formen und ihm gerecht werden. Hierin liegt auch die Bedeutung des Verses: “Ein (guter) Name ist besser als feines Öl und der Sterbetag (ist besser) als der Tag der Geburt” (Prediger 7: 1). Wenn es dem Menschen gelungen ist, sich während seines Aufenthalts hier auf der Erde einen guten Namen zu machen, ist der Tag seines Todes besser als der Tag seiner Geburt. Der Mensch ist anders als das Tier. Die meisten Tiere werden “vollständig” mit all ihren Fähigkeiten und Instinkten geboren. Der Mensch muss sich entwickeln und vervollkommnen.

Wie sehr die Chachamim an den Wert des Lebens gebunden sind, geht aus einer Aussage von Pirké Awot hervor: “Besser eine Stunde Reue und Güte auf dieser Welt als alles Leben auf der Welt” (Pirké Awot 4:22). “Deshalb wurde der Mensch allein geschaffen”, erklären unsere Weisen (B.T. Sanhedrin 37a), “um den Wert des Lebens zu zeigen; Jemand, der auch nur ein Individuum tötet, wird so betrachtet, als hätte er eine ganze Welt zerstört, und jemand, der auch nur ein Individuum rettet, wird so betrachtet, als hätte er eine ganze Welt gerettet.” Selbstmörder sind in der Regel gleichgültig gegenüber dem Wert des Lebens.

Die persönliche Interpretation des Lebens

Der Wert des eigenen Lebens ist eine persönliche und subjektive Einschätzung. Jemand, der seinem Leben, dem Leben anderer oder dem Leben im Allgemeinen keinen Sinn geben konnte, so war sein Leben in der Tat wertlos. Das Judentum sieht das Leben hier auf Erden als eine Übergangsphase zwischen dem glückseligen Zustand vor der Geburt und dem Leben in Gan Eden, dem Paradies, an dem man nach einem fruchtbaren Leben hier auf Erden teilhaben kann. In dieser Welt kommen Vergangenheit und Zukunft in Kontakt miteinander.

Vielleicht erklärt dieser Gedanke ein merkwürdiges Phänomen in der Schöpfung: den Begriff der Zeit. Das Leben in dieser Welt hat keine “Gegenwart”. Das Jetzt hat keine Dauer, ist nicht stationär; die Gegenwart ist ständig in Bewegung. Das Jetzt, die Gegenwart, kann der Mensch nicht fassen. Es ist nur eine Kombination aus Vergangenheit und Zukunft. Sobald das Wort “Moment” gesprochen wird, hat sich ein zukünftiger Moment bereits in die Vergangenheit gewandelt. Das Leben hat keine wirkliche Gegenwart. Auf der Vers (Psalmen 144:4): “Seine Tage sind wie ein vorübergehender Schatten”, sagen unsere Weisen: “Das menschliche Leben ist nicht einmal wie der Schatten einer Mauer oder eines Baumes, dessen Schatten noch eine gewisse Beständigkeit hat, sondern wie der Schatten eines Vogels fliegt es vorbei ohne greifbare Haltbarkeit (vgl. Bereschit Rabba 96).

Der Mensch ist aufgerufen, seine Zeit nützlich zu verbringen, um seinem Leben einen Wert zu verleihen. Das Alles-oder-Nichts-Prinzip gilt für die Gegenwart und die Vergangenheit; Entweder wird es von Eitelkeit und Nihilismus dominiert oder es dient als Teil eines größeren, bedeutungsvollen Ganzen. Der Mensch, der das Leben als vorübergehende Phase auf dem Weg in eine große Zukunft sieht, erlebt dieses Leben als “Vorportal, in der er sich darauf vorbereitet, im Palast des Königs aufzutreten”. Das Leben hat für ihn eine große Bedeutung und auch die unangenehmen Seiten haben eine positive Bedeutung. Wenn das Leben einen inneren Wert hatte, dann bedeutet der Tod nicht das Ende. Wenn der Tod nichts anderes als das absolute Ende ist, dann hat das Leben tatsächlich keinen Sinn.

Leben und Tod: ein Ganzes

Für die positive Person ist der Tod keine wirkliche Bedrohung; Für den Selbstmörder hat das Leben keinen wirklichen Wert. Vielleicht meinten die Talmudgelehrten dies in ihrer Aussage: “Die Bösen gelten noch zu Lebzeiten als tot; Die Gerechten gelten auch nach ihrem Tod als lebendig.”

Die Aufgabe zu trauern

Die Tora hat uns angewiesen, nach dem Tod eines Familienmitglieds zu trauern. Auf den ersten Blick erscheint dieses Gebot etwas überflüssig. Der Trauerprozess in all seinen psychologischen und physiologischen Aspekten ist ein natürliches Ereignis, eine automatische menschliche Reaktion, die spontan auftritt (oder nicht). Die Tora hätte diesen natürlichen Trauerprozess nicht vorschreiben dürfen, da er automatisch abläuft. Psychologische oder physiologische Trauer ist nicht das Verhältnis der Mitzwa – dem Gebot – der Trauer von Awelut. Was uns die Tora lehren will, konzentriert sich auf eine viel abstraktere Ebene und viel weniger auf den Umgang mit Not. Die Tora meinte den Befehl, um den Verlust eines Familienmitglieds zu trauern, um die Bedeutung des menschlichen Lebens im Allgemeinen zu betonen. Neben dem Umgang mit Trauer möchte uns die Tora auf die Bedeutung des Lebens hier auf Erden hinweisen, die es den Menschen ermöglicht, einen enormen “Aufstieg” auf spiritueller Ebene zu erleben.

Letzteres bedarf einer weiteren Erklärung: Der Mensch wird als paradoxe Verbindung von Körper und Seele angesehen, weil die Seele geistiger Natur ist und der Körper Materie. Die Kombination der beiden ist eine wunderbare Sache, die das Besondere des Menschseins bestätigt. Einerseits hat der Mensch Züge dieser Welt in sich, wie sie an Pflanzen und Tieren zu beobachten sind, andererseits gehört er durch seine Seele zu den höheren Welten. Er ist somit die einzig mögliche Verbindung zwischen den beiden.

Dies ist auch im Erscheinungsbild der Menschen zu beobachten. Die tote Materie ist auf der Erde. Die nächste Lebensform, die Pflanze, findet ihre Wurzeln in der Erde, nutzt sie und kommt von der Erde. Das Tier, das sich durch eine noch höhere Lebensform auszeichnet, nutzt die vorhergehenden Kategorien als Nahrung und steht mit dem Kopf nach oben auf der Erde. Der Mensch stellt die Verbindung zwischen Himmel und Erde her, weil er alles Vorhergehende nutzt und mit den Füßen auf der Erde und mit dem Kopf in der Luft als Zeichen seiner Spiritualität steht.

Damit ist er höher als ein g-ttliches Wesen wie ein Engel, das in den Prophezeiungen als dem Himmel zugehörig mit Flügeln beschrieben wird, denn der Mensch kann sowohl mit dem Himmel als auch mit der Erde und ihrem endgültigen Bestimmungsort umgehen zu bringen. Dafür hat er eine Seele bekommen. Alle Seelen werden gleich der ganzen Schöpfung erschaffen und warten in Gan Eden, Paradies, bis sie im Körper eines Menschen in die materielle Welt hinabsteigen können. Denn obwohl sie es genießen, mit G’tt zusammen zu sein und Anteil an der G-ttlichkeit zu haben, haben sie nichts dafür getan. Man spricht von “Verschämtem Brot”, für das man sich schämt, weil dafür nicht gearbeitet wurde.

Die Seele möchte daher den Prüfungen des menschlichen Lebens hier auf Erden ausgesetzt werden, um ihren eigenen Verdienst in ihrer Gegenwart im Gan Eden geltend zu machen. Durch das Absteigen in einen Körper erfährt die Seele eine enorme Abnahme des Niveaus. Im Gan Eden muss er sich nicht anstrengen, um den Prüfungen des materiellen Lebens zu widerstehen, aber genau in seiner irdischen Existenz kommt er zu dem Ziel, für das er geschaffen wurde. Nur in dieser Welt, in der dem Menschen die Macht gegeben wurde, die Mächte des Bösen zu unterwerfen und Dunkelheit in Licht zu verwandeln, hat der Mensch die Möglichkeit, sich über die Ebene der höheren Welten hinaus zu erheben. Es liegt in der Natur des Guten, Gutes zu tun. G-tt ist gut und deshalb gab G-tt der Welt und den Geschöpfen Existenz und Leben.

Nun hätte G-tt natürlich den Prozess der g-ttlichen Ausstrahlung vor unserer Welt stoppen und die Schöpfung mit der höheren Form von Kreaturen wie Engeln abschließen können. Aber “Eine Kerze leuchtet am hellsten in der Dunkelheit”, und es war G’ttes Wunsch, dass Er auch von irdischen und materiellen Wesen erkannt werden sollte und dass das “Licht” G’ttes in dieser dunklen Welt durch Unterwerfung der Kräfte des Widerstands gegen das G-ttliche offenbart würde. Die Zerstörung dieses menschlichen Wachstumspotenzials ist die Basis für den Trauerprozess.

Statisch und dynamisch

In der jüdischen Literatur werden die Engel “statisch” und die Menschen “dynamisch” genannt. Nur der Mensch hier auf Erden ist in der Lage, seine Bindung an G-tt zu festigen und sich auf einer spirituellen Ebene zu erheben, sich zu verändern, zu verbessern und sich selbst zu vervollkommnen. Ein Engel ist ein statisches Wesen, das die ihm zugewiesene Aufgabe erfüllen kann. Der Mensch kann und muss sich erheben und danach streben, eine immer höhere Form religiöser Vollkommenheit zu erreichen.

Der Tod ist nicht nur negativ

 Der Tod wird im Judentum nicht unbedingt als etwas Negatives angesehen. Dieser Gedanke ist im Midrasch angedeutet. Über den Vers: “Und G’tt sah alles, was Er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut” (Genesis 1:31), sagt der Midrasch (Bereschit Rabba 9), dass dieser Vers sich auf den Tod bezieht. Wenn das menschliche Leben nach 70 oder 80 Jahren nicht mit dem Tod abgeschlossen würde, würde der Wert des Lebens vergessen werden.

Dieser Gedanke spiegelt sich auch in Tanna debé Elijahu wider: “Ein Student fragte mich: Warum bist du glücklich mit dem Engel des Todes? Ich antwortete: Mein Sohn, wäre nicht der Engel des Todes, was würden wir für unseren Vater im Himmel tun? “.

“Der Tag des Todes beginnt mit dem Tag der Geburt”, sagt Prediger (7: 1). Von dem Tag an, an dem der Mensch verflucht wurde – “An dem Tag, an dem du vom Baum des Lebens isst, wirst du mit Sicherheit sterben” (Genesis 2:17) – wurde das Leben so konstruiert, dass jeder Atemzug Teil des Sterbens ist. Der Sterbevorgang beginnt mit dem Tag der Geburt. Leben und Tod sind eng miteinander verbunden. Wenn der Mensch dem “Memento Mori” verpflichtet ist, kann er das Leben schätzen. Wenn die Chachamim den Tod in ein positives Licht rücken und die Werke des Mussar die Nichtigkeit des Menschen betonen, meinen sie damit, den positiven Wert des Lebens herauszustellen. Ein Leben ohne Hoffnung oder Ende würde ein endloses und zielloses Ganzes werden. Wir können Freude schätzen, weil wir Traurigkeit kennen, wir möchten leben, weil wir den Tod kennen.

Awelut und der positive Wert des Lebens

 Wenn ein Familienmitglied stirbt, weist uns die Tora an, nicht nur mit Trauer umzugehen, sondern uns den positiven Wert und die spirituelle Wachstumskraft des Lebens beizubringen. Dies ist ein religiöses Ereignis, das den Menschen G’tt und seiner g´ttlichen Mission näher bringen soll. Derjenige, der in diesem Traueraspekt versagt, wird für sich selbst “grausam” genannt: “Derjenige, der nicht trauert, wie die Chachamim angewiesen haben, ist der Grausamkeit schuldig. Da alles ist so, dass der Mensch sich vorbereitet und aus seinem Schlaf aufsteht”, erklärt Maimonides (Hilchot Awel 13:12). Der wirklich kaltblütige Selbstmörder hat das alles nicht gesehen. Ihm war der Wert des Lebens gleichgültig und er zeigt in seiner Tat, dass er diesen religiösen Aspekt des Lebens nicht zu schätzen wusste. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Poskim – Entscheidungsträger – uneinig sind, ob die religiösen Trauerrituale nach einem Selbstmord (vollständig) gelten.

Die Verwandten

Die allgemeine Regel war bereits früher festgelegt worden, dass alle Trauergesetze und Bräuche, die die Hinterbliebenen ehren sollen, eingehalten werden müssen. Dies ist verständlich, weil psychologisch und religiös genau die Verwandten von jemandem, der seine Hand an sich gelegt hat, zusätzliche religiöse und psychologische Unterstützung durch das “soziale Netzwerk” benötigen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die nächsten Angehörigen allein gelassen werden, steigt mit dem Selbstmord eines Familienmitglieds. Obwohl in letzter Zeit viel über Selbstmord veröffentlicht wurde, ist kaum etwas über die Verwandten geschrieben worden. Es scheint, dass die Unterstützung hier ernsthaft unzureichend ist. Dies ist nicht völlig unverständlich, wenn man bedenkt, wie schwierig es ist zu erwähnen, dass ein Kind oder ein Partner auf diese Weise gestorben ist. Es gibt immer noch eine Tendenz, dies zu tarnen, auch wenn sie nachlässt. Kindern und Nachbarn wird oft gesagt, dass es sich um einen Herzinfarkt oder einen Unfall handelt. Anfang dieses Jahres traf ich eine Pflegekraft aus einem Pflegeheim, die mir erzählte, wie sie nach einem erfolgreichen Versuch jemanden am Fuße der Wohnung gefunden hatte. Nach vier Monaten habe sie noch niemand gefragt, wie sie das erlebt und verarbeitet habe. Es wurde alles von der Hausverwaltung zum Schweigen gebracht.

Ebensogleich erleben so etwas Verwandte oder wenn sie darüber sprechen wollen, dass sie zum Schweigen gebracht werden. Das tiefe Gefühl der Schande, dass so etwas einem Nächsten passieren könnte, behindert das Gespräch und die Verarbeitung. Menschen, die ihr Leben beenden, hinterlassen bei Partner, Familie und Verwandten, Freunden und Bekannten Verwirrung, Trauer, Schuldgefühle, Anschuldigungen und eine Vielzahl von Fragen. In vielen Fällen ist es für die Angehörigen schwierig, wenn nicht unmöglich, mit diesen Gefühlen gut umzugehen. Man kann nicht mit anderen darüber reden, weil es zum Beispiel zu bedrohlich ist oder weil “solche Themen nicht diskutiert werden sollten”. Zum Teil aus diesem Grund können Selbstbeschuldigung und Wut jahrelang anhalten und die überlebenden Verwandten weiterhin zernagen. In den Geschichten können Sie sehen, wie oft die offizielle Hilfe fehlschlägt und keinen Rat kennt, aber es gibt auch positive Erfahrungen, wie zum Beispiel, wie sie Hilfe und Unterstützung von einem Sozialarbeiter und spirituellen Betreuern erhalten.

Der schwierige Trauerprozess

 Zusammenfassend fallen folgende Facetten auf:

1. Die Isolation, in der sich gerade diese Kategorie trauernder Angehöriger befindet.

2. Die Wut auf den Verstorbenen und die Selbstbeschuldigung der Angehörigen.

3. Die enorme Schwierigkeit für die Angehörigen, mit diesen Gefühlen gut umzugehen.

4. Die Auswirkung eines Selbstmords auf die Umwelt; Selbstmord von einem bedeutenden Anderen löst zwei Arten von Gefühlen aus: eine positive Aufwertung des Lebens, aber auch eine negative Emotion. Selbstmord wird von einigen Verwandten als eine der ernsthaften Möglichkeiten des Lebens angesehen.

5. Die Rationalisierung des Selbstmords unter den Angehörigen: Frieden finden und diesen letzten verzweifelten Akt rechtfertigen.

6. Der Wahnsinn einer Kultur, die den Tod nicht als Teil des Lebens akzeptieren will; Die Fluchtreaktion nach dem Tod und die Überbewertung des Lebens ohne den Tod als integralen Bestandteil.

Interviews mit überlebende Verwandten zeigten die enormen Hindernisse im Trauerprozess nach einem Selbstmord auf. Der religiöse Aspekt des Trauerprozesses – die Einordnung des Todes in die Lebensperspektive und die positive Neubewertung des Lebenssinns – ist völlig gefährdet, da der tiefere Lebenssinn des Selbstmordattentäters das Ergebnis seiner letzten unwiderruflichen Tat ist. Für die Angehörigen, die sich wegen dieser negativen Einstellung mit ihrem Leid auseinandersetzen müssen, bringt dieser Akt nur Verzweiflung in den Sinn des Lebens.

Sowohl in psychologischer als auch in religiöser Hinsicht gibt es kaum einen normalen Trauerprozess. Das Judentum kann den (kaltblütigen) Selbstmörder nicht würdigen und stellt daher fest, dass alle Trauergesetze und Rituale, die den Verstorbenen ehren, im Fall von Selbstmord keine Anwendung finden. Hierin ist das Judentum ziemlich entschlossen, zumindest wenn es einen absichtlichen Selbstmord gibt. Das Judentum ist jedoch bereit, Selbstmord aufgrund einer Geisteskrankheit oder einer Krisensituation und sogar einen kaltblütigen Selbstmord mit dem Mantel der Liebe zu decken. Dies bedeutet, dass sogar der (verzweifelte) Selbstmörder mit den notwendigen Ehren bestattet wird.

Chatam Sofers Meinung

Dies wurde höchstwahrscheinlich von den halachischen Behörden zur Prüfung der Angehörigen gebilligt, damit sie – zumindest öffentlich – nicht die Schande eines Selbstmords in ihrer Familie ertragen müssten. Die bekannte ungarische Autorität Chatam Sofer erwähnt diesen Erwägungsgrund ausdrücklich: “Trotzdem glaube ich, dass bei der Anwendung der jüdischen Selbstmordbestimmung den Angehörigen die größte Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Obwohl zwischen zwei mittelalterlichen Gelehrten, Maimonides und Nachmanides, Meinungsverschiedenheiten bestehen, ob im Falle eines Selbstmordes die Trauergesetze befolgt werden können (von den Angehörigen), glaube ich, dass die örtliche rabbinische Behörde den Angehörigen erlauben sollte, nach jüdischem Recht zu trauern . Die Umstehenden werden dann glauben, dass die halachischen Behörden die Angelegenheit sorgfältig untersucht haben und zu dem Schluss gekommen sind, dass hier von Selbstmord keine Rede war. Diese rabbinische Entscheidung ist auch dann zulässig, wenn der Rabbiner davon überzeugt ist, dass es sich tatsächlich um einen Selbstmord handelte. Obwohl wir in diesem Fall der Meinung von Maimonides folgen sollten – gemäß den halachischen Entscheidungsregeln -, dass in diesem Fall die vorgeschriebenen Trauerrituale nicht befolgt werden sollten – ist es erlaubt, der Vision von Nachmanides zu folgen, der es erlaubt, weil sonst die Ehre der Familie gefährdet wird. “

Auf die Gefahr, dass ich mehr in den Worten von Chatam Sofer lesen möchte, als es heißt, würde ich argumentieren, dass die Halachisten bei der Anwendung der jüdischen gesetzlichen Bestimmungen zur Trauer nach dem Selbstmord mit Sicherheit ein Auge für soziale, psychologische und religiöse Themen hatten. Probleme, bei denen die Familie des Selbstmörders konfrontiert wird. Formelle Trauer ist erlaubt oder vorgeschrieben, um zu verhindern, dass die Familie isoliert wird, aber auch, um das Selbstwertgefühl der Familie aufrechtzuerhalten. Bei der Beobachtung der formellen Trauer haben umstehende Personen die religiöse Pflicht, die betroffene Familie zu besuchen, um ihre Gefühle mitzuteilen und zu hören. Wenn die Trauernden dies wählen, können sie das Thema Selbstmord ansprechen. Während des Besuchs zur Schiwwe kann man nur die Worte der Verwandten hören und es ist strengstens verboten, Gefühle zu verurteilen. Man muss implizit oder explizit angeben, an der Trauer teilzunehmen.

Aus pastoraler Erfahrung weiß ich, wie tröstlich das wirkt. Die Trauernden werden so in diesem schwierigen Prozess der Traurigkeitsbearbeitung unterstützt und können – unterstützt durch die Erfahrungen der Besucher – lernen, gut mit ihren Gefühlen umzugehen. Die religiösen negativen Auswirkungen eines Selbstmordes sind auch weniger betroffen, wenn die Familie – unterstützt durch den Besuch – die Möglichkeit hat, die positiven Aspekte des Lebens neu zu bewerten. Die Frage ist, inwieweit dies den Menschen professionelle Hilfe bietet. Zeit, Geduld und Verständnis der einfachen Leute aus dem sozialen Netzwerk, in dem sich die Familie befindet, sind viel wichtiger, um tatsächlich jemandem zu helfen.

Die Halacha und der Selbstmord

Keria – die Kleider zerreißen

Maimonides und Nachmanides sind sich nicht einig, ob die normalerweise verschriebene Keria auch für jemanden gemacht werden soll, der an Selbstmord gestorben ist. Maimonides ist der Meinung, dass niemand – nicht einmal die unmittelbare Familie – das Zerreißen tun kann. Nachmanides ist der Meinung, dass nur die Umstehenden, zum Beispiel diejenigen, die zum Zeitpunkt des Todes anwesend sind, keine Keria machen, sondern dass die engsten Familienmitglieder eine Keria machen müssen. Es ist interessant, den Grund der Keria gegen diesen spezifischen Umstand des Selbstmords zu testen.

Die traditionelle jüdische Literatur nennt vier Gründe für die Mitzwa von Keria:

a. Die Keria dient dazu, “Trauer zu erregen” oder in der modernen Terminologie den Trauerprozess einzuleiten.

b. Die Keria dient dazu, die Trauergedanken für einen Moment von dem überwältigenden persönlichen Verlust auf einen kleinen finanziellen Verlust umzulenken. Die Keria kann als Einführung in die Trauer angesehen werden. Keria wird normalerweise kurz nach dem Tod gemacht. Zu diesem Zeitpunkt ist der Verlust – subjektiv – immer noch zu überwältigend, um eingedämmt zu werden. Es ist sozusagen immer noch transzendent. Die Trauer muss sich allmählich öffnen, um sie verarbeiten zu können. Die Trauer muss verinnerlicht werden, um den Verarbeitungsprozess einleiten zu können. Man darf die Trauer nicht leugnen oder sich abschließen. Eine intensive Trauer muss so bald wie möglich begonnen werden. Die Gefühle müssen so realitätsnah wie möglich sein. Zu diesem Zweck wird die trauernde Person kurz von dem unvorstellbaren Verlust eines geliebten Menschen abgelenkt und die Aufmerksamkeit wird kurz auf einen kleinen nachvollziehbaren Verlust (von Kleidung) gerichtet. Auf diese Weise wird eine Öffnung für die Internalisierung des großen Verlusts geschaffen.

 c. Wie die Kleidung den Körper umschließt, umschließt der Körper die Seele und der Körper bildet die irdische Kleidung der Seele. Die trauernde Person scheint sich auch ein bisschen “tot” zu fühlen und drückt dies symbolisch aus. Die Keria kann als eine Form der Identifikation mit dem Verstorbenen angesehen werden, ein Phänomen, das häufig in trauernden Prozessen beobachtet wird.

d. Die Keria wird als emotionaler Ausdruck von Trauer gesehen, wenn man Zeuge der Zerstörung von etwas Heiligem wird. Der Tod des Menschen wurde von den Chachamim (Weisen) mit dem Verbrennen einer Sefer-Tora, einer Torarolle, verglichen. Eine Sefer-Tora repräsentiert eine besonders hohe Form der Keduscha (Heiligkeit). Gleiches gilt für einen Menschen, der sein Leben nach den Richtlinien der Tora gestaltet hat.

Laut Maimonides kann man nach einem Selbstmord keine Keria machen. Vielleicht hat Maimonides in seiner halachischen Entscheidung den Grund der Keria in Betracht gezogen.

Die ersten beiden Gründe versuchen, die Einleitung von Trauer zu fördern. Die überlebenden Verwandten von jemandem, der durch Selbstmord gestorben ist, sind fassungslos und werden zurückgelassen. Besonders in der ersten Zeit nach dem Selbstmord (der Periode, in der die Keria gemacht werden soll) ist diese Form des Todes immer noch so unwirklich und inakzeptabel, dass es noch nicht möglich ist, mit der Verarbeitung der Trauer zu beginnen. Tiefes Schamgefühl, dass so etwas einem Nachbarn passieren kann, behindert das Gespräch und die Verarbeitung. Die Angst, die dieses Thema bei vielen Menschen hervorruft, die damit verbundene Bedrohung und die Wut und Schuldgefühle der Angehörigen sind dafür verantwortlich, dass der Trauerprozess extrem verzögert einsetzt.

Der dritte Grund für Keri’a ist bei Selbstmord kaum vorstellbar und aus jüdischer Sicht äußerst unerwünscht. Ein Selbstmord erschüttert die unmittelbare Umgebung und bringt viele in Verwirrung und Verzweiflung. Emotional sind viele gegen eine solche barbarische Handlung, und diejenigen, die sich mit dem Selbstmord identifizieren, müssen stark entmutigt werden. Ein Keria ist definitiv nicht nötig.

Die vierte Erklärung spricht sich auch gegen eine Keria nach Selbstmord aus. Der Selbstmörder konnte die Heiligkeit des Lebens nicht erfassen und hat sich in seinem letzten Akt ausdrücklich gegen das Judentum gewandt. Ein Keria kann nicht gemacht werden, da in diesem Fall keine Vergleichbarkeit zwischen dem Tod eines Menschen und dem Verbrennen einer Sefer-Tora in Frage kommt. Nachmanides und Tur et al. glauben, dass nach einem Selbstmord auch Platz für eine Keria bei den Verwandten ist. Nachmanides und Tur mögen der Realität mehr Aufmerksamkeit schenken: Auch diese unwirkliche Trauer der Verwandten muss eingebracht und verarbeitet werden. Vielleicht konzentrierten sich Nachmanides und Tur in ihrer halachischen Entscheidung – etwas mehr als Maimonides – auf die (Scham-)Gefühle der unmittelbaren Familie.

Hesped oder Trauerrede

Die Hesped (Lobrede oder Trauerrede) ist auch ein Gebiet von halachischem Interesse. Die Talmudisten fragen sich, ob die Trauerrede zu Ehren der Verstorbenen oder zu Ehren der nächsten Angehörigen gedacht ist (B.T. Sanhedrin 47). Obwohl der Schulchan Aruch (Joré Dé’a 345) feststellt, dass ein (kaltblütiger!) Selbstmord nicht geehrt werden darf, weil er in seinem letzten Akt gezeigt hat, dass er die Keduscha – Heiligkeit – des Lebens nicht schätzt und obwohl der Talmud und Schulchan Aruch zeigen dass eine Laudatio (hauptsächlich) den Verstorbenen ehren soll, meint der Knesset Jechezkel dass eine Rede zur Beerdigung auch im Fall von Selbstmord gehalten werden kann, wenn es einen gültige halachische Grund dafür gibt.

Schiva (schiwe) oder Trauerwoche

Umstritten ist auch die Berücksichtigung der formellen, intensiven und aktiven Trauerwoche – der Schiwe. Maimonides und der Schulchan Aruch behaupten, dass man nach einem Selbstmord die Trauerwoche nicht einhält. Nachmanides glaubt jedoch, dass die überlebenden Verwandten die Schiwe respektieren können oder müssen. Seine Argumentation ist, dass die Schiwe auch dazu gedacht ist, die Verwandten (lichwod Hachaim) zu ehren. Chatam Sofer glaubt, dass man der Vision von Nachmanides folgen kann, wenn die Ehre der Familie sonst diskreditiert werden könnte. In der Praxis wird angemessen entschieden, dass die trauernden Verwandten dieser Ansicht folgen, die sie für richtig halten. Die halachische Motivation ist, dass die Ehre der Familie nicht beeinträchtigt werden sollte.

Die Ambivalenz in der Halacha verläuft parallel zu der Ambivalenz in den Gefühlen der Hinterbliebenen und den zweifelhaften Umständen, unter denen die Trauer verarbeitet werden muss. Es ist fraglich, ob die psychologische Seite dieses Trauerprozesses eine Trauer nach den Kriterien von Chachamim erlaubt. Die negative Einstellung des Verstorbenen wird sicherlich auch die religiöse Seite des Trauerprozesses erschweren. Nichtsdestotrotz ist Trauer notwendig und unvermeidlich, auch wenn sie noch so verzögert ist, um in das “Reich der Lebenden” zurückzukehren.