Vegetarismus und Veganismus – Tu Bischwat 5782

Vegetarismus und Veganismus – Tu Bischwat 5782

Tu Bischwat 5782

Sollten wir die Bio-Industrie stoppen?

Mit dem bevorstehenden Tu Bischwat (16. abends und 17. Januar) stellt sich die Frage, was das Judentum zu vegetarischer und veganer Ernährung zu sagen hat.

Sollten wir alle Veganer werden?

Was hat das Judentum zur Ethik des Tötens von Tieren zu sagen? Sollten wir alle Veganer werden? Ist das Essen von Fleisch am Schabbat oder Jom Tov nicht vorgeschrieben? Gibt die Thora den Tieren Rechte?  

Tierrechte und menschliche Pflichten      

Natürlich gibt es im Judentum umfangreiche Vorschriften zum Schutz der Tiere. Das Jüdische Gesetz versucht, Tiere vor Grausamkeit und Leiden zu schützen und macht den Menschen für das Wohlergehen (ihrer) Tiere verantwortlich. Das Verbot, vom lebenden Tier abgetrennte Gliedmaßen zu essen, ist biblischen Ursprungs und gilt weltweit. Wer ein Tier während der Arbeit am Fressen hindert, wird wegen Verstoßes gegen das Verbot „Verbinde dem Ochsen das Maul nicht, wenn er drischt” (Dewarim 25,4) bestraft. In jedem siebten Jahr, dem “Schabbatjahr”, müssen alle Tiere frei von den Erträgen der brachliegenden Felder fressen dürfen (Ex 23:11 und Lev. 25:2-7).In Exodus (23:5) wird man angewiesen, einen Esel zu entlasten, der in Gefahr ist, seiner Last zu erliegen, selbst wenn der Besitzer ein Feind ist. Der Talmud (B.T. Schabbat 128b und Bava Metzia 32b) leitet daraus ab, dass das Quälen von Tieren ein Verbot der Thora ist. Maimonides (1135-1204) und Rabbi Yosef Karo (1488-1575) übernahmen dies in ihren jeweiligen Gesetzbüchern (Rotseach 13:1 und Choschen Mischpat 272:9). Das rituelle Schlachten mit Halsschnitt wird mit einem rasiermesserscharfen Messer durchgeführt. Die Arterien im Hals werden so schnell durchtrennt, dass fast sofort der Blutdruck zum Gehirn verloren geht und das Tier bewusstlos wird. Obwohl dem koscheren Schlachten in Tierliebhaberkreisen oft Grausamkeit vorgeworfen wird, haben wissenschaftliche Studien gezeigt, dass die Jüdische Schlachtmethode sehr tierfreundlich ist. Auch im Judentum ist tierisches Leben heilig. Wenn ein stoßender Stier geschlachtet werden musste, wurde er dem Sanhedrin (71 Richter !) zur Beurteilung vorgelegt.

Auch Ruhe

Die Zehn Gebote schreiben auch die Ruhe für Tiere am Schabbat vor: „aber der siebente Tag ist Schabbat dem Ewigen, deinem G`tte; du sollst keinerlei Werk verrichten, du und dein Sohn und deine Tochter und dein Knecht und deine Magd und dein Ochs und dein Esel und all dein Vieh…” (5. Mose 5,14). Aus dem Vers „und werde Gras geben auf deinem Felde für dein Vieh, sodass du essest und dich sättigst.” (5. Mose 11,15) geht hervor, dass man die Tiere zuerst füttern muss, bevor man selbst isst.Die Vorsehung G’ttes erstreckt sich auf alle seine Geschöpfe. Im Judentum gilt es als eine Form der Imitatio Dei, also der Nachfolge auf G’ttes Wegen.

zum Zwecke der Entwicklung eines Impfstoffes

Nachmanides (1194-1270) und Rabbi Chaïm ibn Attar (1696-1743) betrachten das Töten von Tieren – außer, wenn es für den menschlichen Verzehr oder für die Religion notwendig ist – als eine Form von verdecktem Mord.  Wenn das Leid eines Tieres zum Zwecke der Entwicklung eines Impfstoffes, ist es sicherlich notwendig. Wenn Tiere aus rein wirtschaftlichen Gründen und um Kontaminationen zu vermeiden getötet werden müssen, mag dies aus halachischer Sicht vertretbar sein, es widerspricht aber jedem menschlichen Gefühl.

Mensch im Zentrum

Der amerikanische Rabbiner Mosche Feinstein verurteilte verschiedene grausame Praktiken in der “modernen” Bio-Industrie. Doch in der Jüdischen Literatur steht der Mensch, nicht das Tier, im Mittelpunkt der Diskussionen. Die Tierrechte stehen nicht in der Thora, sondern nur menschliche Pflichten. Tieren Leiden zuzufügen, ist eine Entwürdigung des Menschen. Der Schutz von Tieren hebt den moralischen Charakter einer Gesellschaft, aber dennoch bleibt der Mensch wichtiger als das Tier. Im 16. Jahrhundert schrieb R. Mosche Isserles, dass “alles, was für die Medizin oder für andere wichtige Dinge notwendig ist, prinzipiell das Verbot gegen Tierleid außer Kraft setzt” (Ewen haEzer 5:14). Tierversuche für die Kosmetikindustrie sind nicht zulässig. Aber für die medizinische Forschung ist vieles erlaubt, obwohl das Tierleid natürlich auf ein absolutes Minimum beschränkt werden muss. Der Einsatz von Tieren zur Rettung von Menschenleben ist erlaubt und manchmal sogar erforderlich. Die Xenotransplantation mit einem Schweineherz ist erlaubt wenn es ein Leben retten kann und ein ‘Muss’.

Veganismus, Vegetarismus oder einfach nur Hühnersuppe?

In der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 29-31) wird offenbart, dass die Menschen vor der Sintflut nur samentragende Feldfrüchte aßen. Auch in messianischer Zeit, nach dem Propheten Jesaja (11:7), heißt es, dass: “Der Löwe soll Stroh fressen wie der Ochse”. Aber diese Texte beschreiben eine ideale Situation, denn in der Thora wird nirgendwo angedeutet, dass der Vegetarismus als ideale Lebensweise gilt.

auf eine höhere Ebene des heiligen Dienstes erhoben 

Unser Verhältnis zum Tier ist eine Frage der Weltanschauung. Einige Rabbiner scheinen viel von der vegetarischen Lebenseinstellung zu befürworten. Sie betrachten die gegenwärtige Mensch-Tier-Beziehung, in der der Mensch das Tier abschlachtet, als eine Manifestation des gefallenen Zustandes des Menschen. Andere, wie Rabbi Schneur  Zalman (1745-1813) aus Liadi, sehen die Mensch-Tier-Beziehung jedoch in einer ganz anderen Perspektive: “Wenn ein Mensch Fleisch isst, um sich für den G’ttesdienst, Schabbat und das Lernen der Tora zu stärken, dann wird dieses Fleisch gleichsam erhöht, weil die Energie im Fleisch für den G’ttesdienst verwendet wird. Es wird wie eine Opfergabe.

Mit anderen Worten: Wenn eine Kuh ein ungestörtes Leben lebt und an Altersschwäche stirbt, dann war sie einfach eine Kuh. Aber wenn die Kuh geschlachtet und schließlich für einen höheren Zweck verwendet wird, dann hat die Kuh ihre rein physische Existenz transzendiert und wird auf eine höhere Ebene des heiligen Dienstes erhoben.

Und dann ist da noch der gesundheitliche Aspekt: Wer sich in der Bio-Industrie auskennt, weiß, dass das “Mästen” von Tieren ein Risiko für die öffentliche Gesundheit darstellen kann. Manchmal werden dem Viehfutter gefährliche Chemikalien zugesetzt. Viele Aussagen unserer Weisen weisen darauf hin, dass potenzielle Gesundheitsrisiken so weit wie möglich vermieden werden sollten. Wenn es stimmt, dass Produkte der Bio-Industrie gesundheitsschädlich sind, könnte dies ein guter Grund sein, Vegetarier zu werden.

Kaschrut bei Fleisch ein großes Problem

Kaschrut – der rituelle Aspekt – ist auch bei Fleisch ein großes Problem. Der Talmud (B.T. Pessachim 49b) erklärt, dass ein am-ha’aret – ein Analphabet – kein Fleisch essen darf, weil er nicht alle Vorschriften bezüglich des Schlachtens und Einsalzens von Fleisch kennt. Deshalb darf das Schlachten und Salzen nur von Fachleuten durchgeführt werden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Judentum aufgrund vieler praktischer und einiger philosophischer Überlegungen nicht gegen den Vegetarismus ist.