Vollständige Herzgütigkeit – Parascha Mischpatim
In Parascha Mischpatim weist uns die Tora an, unseren bedürftigen Mitmenschen Geld zu leihen.
In der Tora heißt es: “Wenn du Meinem Volk, dem Armen neben dir, Geld leihest, sollst du ihm nicht wie ein Schuldforderer sein; ihr sollt ihm keinen Zins auflegen. Wenn du, auf welche Weise auch immer, das Kleid deines Nächsten pfändest, bis zum Sonnenuntergang gib es ihm zurück; denn es allein ist seine Bedeckung, es ist sein Gewand für seinen Körper. Worauf soll er sich betten? Wird er zu Mir schreien, so höre Ich, denn Ich bin gnadevoll.” (siehe 1. unten)
Nach oberflächlicher Analyse scheinen diese Mitzwot ziemlich einfach und leicht zu verstehen zu sein, doch Rav Chaim Schmuelevitz zt”l leitet aus diesen Passukim (siehe 2. unten) einen sehr wichtigen Einblick in die Haltung der Tora zu Chesed (Herzgütigkeit) ab:
In dieser Passage handelt es sich um eine Person, die die große Herzensgütigkeit erfüllt, ihrem Freund zu helfen, indem sie ihm Geld ausleiht, und dennoch gibt ihm die Tora eine Reihe von Mizwot, um sicherzustellen, dass man diesen Chesed auf die optimalste Weise ausführt und seine Wirkung nicht verringert.
Es ist lehrreich, diese Passukim genauer zu analysieren, um ihr gemeinsames Thema zu sehen:
“Sollst du ihm nicht wie ein Schuldforderer sein..”
Raschi, basierend auf der Mechilta, erklärt, dass dies bedeutet, dass wenn der Kreditgeber weiß, dass der Kreditnehmer derzeit nicht in der Lage ist, den Kredit zurückzuzahlen, sollte der Kreditgeber ihn nicht unter Druck setzen, sondern sich so verhalten, als ob der Darlehen nie stattfand, um den Kreditnehmer nicht in Verlegenheit zu bringen.
“Ihr sollt ihm keinen Zins auflegen..”
Dies bezieht sich auf das Verbot, Geld mit Zinsen (Ribbis) zu verleihen.
Rav Schmuelevitz bringt eine Reihe von Maamrei Chazal mit, die die Ernsthaftigkeit der Kreditvergabe mit Zinsen betonen;
Zum Beispiel bringt er einen Medrash mit, dass es für jede Sünde Malachim (Engel) in Schamayim gibt, die versuchen, einen Verdienst für den Sünder zu finden, die einzige Ausnahme in diesem Fall ist der von Ribbis. Rav Schmuelievitz weist darauf hin, dass die Schwere der Kreditvergabe mit Zinsen schwer zu verstehen ist. Es ist klar, dass selbst derjenige, der mit einem geringen Zinsbetrag Kredite vergibt, dem Kreditnehmer, der dringend Geld benötigt und bereit ist, die zusätzlichen Zinsen zu einem späteren Zeitpunkt zu zahlen, einen großen Chesed macht. Trotzdem behandelt die Tora diejenigen, die sowas machen, sehr streng.
“Wenn du, auf welche Weise auch immer, das Kleid deines Nächsten pfändest, bis zum Sonnenuntergang gib es ihm zurück..”
Wenn der Kreditnehmer nicht in der Lage ist, den Kredit zurückzuzahlen, kann der Kreditgeber seine persönlichen Sachen als Sicherheit nehmen, um die Zahlung des Kredits sicherzustellen. Er muss die Sachen jedoch zurückgeben, wenn sie vom Kreditnehmer benötigt werden.
Zum Beispiel wird Kleidung tagsüber benötigt, daher darf der Kreditgeber sie nur nachts aufbewahren und muss sie tagsüber zurückgeben, damit der Kreditnehmer sie verwenden kann.
Dieses Gesetz scheint die gesamte Funktion von Sicherheiten aufzuheben, denn wenn der Kreditnehmer sie weiterhin nutzen kann, wenn er sie benötigt, ist er weit weniger motiviert, den Kredit zurückzuzahlen. Dennoch fordert die Tora, dass der Kreditgeber die Grundbedürfnisse des Kreditnehmers respektiert.
Rav Schmuelevitz erklärt, dass der gemeinsame Nenner dieser Gesetze darin besteht, dass sie die Wichtigkeit betonen, Chesed so vollständig wie möglich durchzuführen, ohne die Wirkung des Chesed zu verringern.
Obwohl es eine großartige Mitzwa ist, jemandem Geld zu leihen, muss der Kreditgeber äußerst vorsichtig sein, um die Wirkung seiner Herzgütigkeit durch Druck auf den Kreditnehmer in irgendeiner Weise nicht zu mindern.
Rav Schmuelevitz sagt weiterhin, je größer die Wertschätzung eines Menschen für die Bedeutung von Chesed ist, desto strenger wird er behandelt, wenn er nicht gemäß seiner Anerkennung handelt.
Wer also Geld leiht und dennoch Zinsen berechnet, wird besonders hart behandelt, weil er den Wert der Hilfe für den Kreditnehmer schätzt und sich dennoch dafür entscheidet, ihm Zinsen zu berechnen.
Rav Moshe Sternbuch Schlita leitet eine ähnliche Lehre aus einer sehr rätselhaften Gemara ab.
Die Gemara sagt, dass eine Person, die eine Mitzwa zu machen beginnt, sie aber nicht vollendet, sehr streng bestraft wird (siehe 3. unten) – dies scheint schwer zu verstehen – es gibt keine solche Bestrafung für denjenigen, der eine Mitzwa überhaupt nicht ausführt, und dennoch wird derjeniger, der zumindest die Mitzwa zu machen beginnt, so schwer bestraft!
Rav Sternbuch antwortet, dass diese Gemara uns darüber lehrt, dass derjeniger, der eine Mitzwa zu machen beginnt, zeigt, dass er den Wert des Mitzwa schätzt. Wenn er es aber nicht schafft, wird er folglich härter behandelt, weil er die Notwendigkeit der Mitzwa hoch anerkennt.
Im Gegensatz dazu wird derjeniger, der die Mitzwa nicht einmal beginnt, nicht bestraft, weil er sich auf einer niedrigeren Ebene befindet und daher milder beurteilt wird.
Wir lernen aus den Mitzwot in Bezug auf das Ausleihen von Geld, dass es wichtig ist, dass eine Person, die einen Chesed für ihren Nächsten macht, bestrebt sich, die positive Wirkung ihres Chesed zu maximieren und ihn in keiner Weise beeinträchtigen zu lassen.
Dies gilt in vielen Fällen in unserem täglichen Leben; sehr oft wird man gebettet, einen Gefallen zu tun; er mag zustimmen, dies zu tun, aber mit einer Zurückhaltung, die den bedürftigen Menschen sich unangenehm fühlen lässt, als ob er den anderen damit belästigen würde. Vielmehr sollte der Geber sich danach streben, seinem Freund so positiv wie möglich zu helfen. Dies erhöht den tatsächlichen positiven Nutzen bei den Ergebnissen erheblich, da den Bedürftigen nicht nur geholfen wird, sondern wird auch so gemacht, dass der Bedürftige sich wegen seiner Bitte nicht schuldig fühlen wird.
Dasselbe ist mit der Tzdaka, man kann entweder mit einem Lächeln oder mit einem sauren Gesicht tun. Chazal sagt uns, dass derjeniger, der mit Simcha gibt, nicht weniger als 17 Berachot für seinen Mitzwa erhält, während derjeniger, der nicht begeistert gibt, nur 6 Berachot erhält. (siehe 4. unten) Man macht einen Chesed mit mangelnder Begeisterung, die die Wirkung seiner Herzgütigkeit stark mindert.
Ein letztes Beispiel ist, wenn man jemanden bittet, einen Chesed auf eine bestimmte Art und Weise durchzuführen, und derjeniger zustimmt, aber der Geber möglicherweise nicht darauf achtet, dies gemäß den Anforderungen des Bedürftigen zu tun.
Zum Beispiel kann eine Frau ihren Ehemann bitten, das Haus von dem angesammelten Durcheinander zu säubern. Möglicherweise hat er eine andere Vorstellung von einem „aufgeräumten“ Haus als die seiner Frau und räumt nur nach seiner Einschätzung auf, was erforderlich ist. In Wahrheit weiß er jedoch, dass seine Frau möchte, dass er entsprechend ihrer Ordnungsansicht aufräumt. Um dies richtig zu machen, sollte er sich bemühen, es auf die Art und Weise zu tun, die sie auffordert.
Wir haben gesehen, dass die Mitzwot in Bezug auf die Kreditvergabe uns lehren, wie wichtig es ist, Chesed so vollständig wie möglich durchzuführen.
Mögen wir alle es verdienen, anderen so effektiv wie möglich zu helfen.
Quellen aus dem Text:
1) Misсhpatim, 22:24-26.
2) Sichot Mussar, s.191-197.
3) Die Gemara zitiert das Beispiel von Jehuda, der die Mitzwa begann, den Josef zu retten, sie aber nicht vollendete – er wurde bestraft, indem er seine Frau und zwei Söhne verlor!
4) Bava Batra, 9b.