Was halte ich von einer Abtreibung nach einer Vergewaltigung? – Parascha Tazria

Was halte ich von einer Abtreibung nach einer Vergewaltigung? – Parascha Tazria

בסייד

Natürlich ist es für eine Mutter schrecklich, wenn sie durch das Aussehen oder das Innere ihres geliebten Kindes ständig an den schrecklichen Vergewaltiger erinnert wird. Das kann einen total deprimieren. Das kann ich mir gut vorstellen.

Dennoch ist dieses Drama kein guter Grund, Ihrem Kind das Leben zu nehmen. Denn auch dieses Kind hat ein Recht auf Leben. Auch dieses Kind hat ein Recht auf Schutz. Auch dieses Kind hat ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben.

Außerdem lebt es bereits im Mutterleib ein wunderbares Leben. Das Kind im Mutterleib schwimmt sorglos im Fruchtwasser. Es erhält alle Nahrungsmittel automatisch von seiner Mutter. Er oder sie lernt bereits die gesamte Tora.

Die einzige Sorge, die dieses Kind hat, ist, wie es in dieser überlebensgroßen Welt ohne Nabelschnur leben kann. Er kann sich den Übergang von seiner paradiesischen Existenz im Mutterleib zu unserer Lebensweise nicht vorstellen. Der Embryo glaubt, dass er stirbt. Obwohl wir es Geburt nennen! Und wir sind alle glücklich mit diesem neuen Leben. Was für ein Paradoxon!

Das Thema Abtreibung hat meine Aufmerksamkeit erregt, zumal die Tora-Lesungen in dieser Woche uns weltweit an die Bedeutung und Wichtigkeit neuen Lebens erinnert haben. Es gibt viele hochaktuelle Fragen.

Der moderne Embryo ist sich seines Lebens nicht sicher

Inmitten all der Opfervorschriften im dritten Buch der Tora, Wajikra/Levitikus Kapitel 12 (Anfang), wird von der Geburt neuen Lebens gesprochen. Heutzutage ist sich der Embryo seines Lebens nicht mehr sicher. Ich werde mit Fragen darüber konfrontiert, wann eine Abtreibung nach der Tora erlaubt ist, und auch mit sehr praktischen Fragen wie der, ob ein Embryo als Quelle der Heilung für andere verwendet oder missbraucht werden darf. Eine tiefe Frage der Nächstenliebe – aber auf Kosten des frühen Lebens eines anderen.

Dürfen wir menschliches Leben zeugen, um Behinderte zu heilen?

Eine junge Frau schrieb einen Brief an die Parkinson’s Disease Association: “Ich würde keinen Augenblick zögern, eine kurzzeitige Schwangerschaft mit anschließendem frühem Abbruch zu haben. Ich würde die Frucht nicht sehen, die dann in mir als mein Kind sein würde. Ich würde es nur als ein Mittel sehen, als ein Medikament, um den Verlauf der Parkinson-Krankheit, an der mein Mann seit einigen Jahren leidet, positiv zu beeinflussen. Ich hätte absolut keine Gefühle für diese Frucht, aber ich hätte das Gefühl, dass ich etwas für meinen Mann tun könnte. Wenn Parkinson dank einiger injizierter Gehirnzellen aus einem menschlichen Klumpen, der nicht einmal im Entferntesten einem Menschen ähnelt, verschwindet, dann muss ich nicht eine Sekunde darüber nachdenken.”

Entmenschlichung

Droht diese Art von Handlung nicht, den Menschen zu entmenschlichen?  Sind wir in die bizarre Welt des Labormenschen eingetreten?  Wo liegen die Grenzen der medizinischen Normen und Werte? Und wo ist die untere Grenze des Lebens: Ab wann kann man von menschlichem Leben sprechen?

Eine kleine Geschichte

In den 1970er Jahren spielte die Abtreibungsfrage in der niederländischen Politik eine wichtige Rolle. 1970 wurde der Zweiten Kammer ein Vorschlag zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs vorgelegt. Die Antragsteller wollten den Schwangerschaftsabbruch als eine Angelegenheit betrachten, die nur die Frau und ihren Hausarzt betrifft.

Schutz des Fötus

Die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen. Die Gegner der Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs sind der Meinung, dass das Gesetz die Rechte des Fötus schützen sollte. Die Befürworter der Liberalisierung wollten ein Gesetz, das die Rechte der Frauen in den Vordergrund stellt. Diese Argumente hingen mit den Ansichten über die Natur des menschlichen Fötus zusammen und insbesondere mit der Frage, ab welchem Zeitpunkt man von menschlichem Leben sprechen kann, das all den Schutz verdient, der auch für “geborenes Leben” gilt.

Fällt dieser Zeitpunkt auf den Moment der Empfängnis, die Lebensfähigkeit des Fötus oder die Geburt?

Argumente der Befürworter und Gegner

Die Gegner des Schwangerschaftsabbruchs betonen die Ähnlichkeit der verschiedenen Stadien der menschlichen Entwicklung: Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einem Embryo, einem Baby und einem Erwachsenen; alle diese Lebensformen sollten geschützt werden.

Die Befürworter machen einen Unterschied: ein Fötus ist ein Fötus und kein menschliches Wesen. Wenn eine Frau das Gefühl hat, dass sie kein Kind haben möchte, sollte ihr niemand Steine in den Weg legen; sie entscheidet selbst, ob sie abtreibt oder nicht.

G’tt hat Macht über das Leben

Die Argumente sind hier noch nicht erschöpft. Orthodoxe Gläubige argumentieren, dass ein abortus provocatus nicht erlaubt ist, weil G’tt die Macht über das Leben hat. In dieser Sichtweise spielt der Schutz des Fötus zwar eine Rolle, aber der Schwerpunkt liegt eindeutig auf religiösen Gründen. Andere Kreise argumentieren, dass ein abortus provocatus eigentlich nicht erlaubt ist, weil es Mord ist.

Auswirkungen auf die Qualität der Gesellschaft

Ein weiteres Argument ist, dass die Qualität der Gesellschaft, die auf “affektiver” Menschlichkeit beruhen sollte, durch den abortus provocatus gefährdet wird. Ein abortus provocatus ist in der Tat “unmenschlich” und bringt keine Lösung.

Blick auf Mensch und Gesellschaft  

Alle unsere Normen leiten sich aus einem Menschen- und Gesellschaftsbild ab, das ihnen zugrunde liegt und sich in ihnen manifestiert. Normen sind immer ein Ausdruck bestimmter Werte und des bewusst oder unbewusst vorhandenen Menschenbildes.

Steht der Mensch im Mittelpunkt?

In unserer humanistisch geprägten Gesellschaft gibt das Menschenbild den ersten Anstoß für eine ethische Würdigung des menschlichen Handelns: Gut ist, was dem wahren Menschsein entspricht; böse ist, was davon abweicht. Hier kommt die typisch anthropozentrische westliche Denkweise zum Ausdruck.

Das Menschenbild in Bezug auf den Allmächtigen

Die Tora und das Judentum haben jedoch ein theozentrisches – G’tt steht im Mittelpunkt – Menschenbild, oder genauer gesagt: ein theozentrisch-interaktives Weltbild. G’tt hat in der Tora und der Mündlichen Lehre eine Reihe von Normen für die Menschheit aufgestellt. Der Mensch muss sein ganzes Leben lang versuchen, diesen Werten in seinem täglichen Leben Gestalt zu geben. Als solcher wird er als “G’ttes Partner” betrachtet.

Interaktion mit G’ttes Normen

In der Tradition der Tora gibt die Interaktion des Menschen mit den G’ttlichen Normen den ersten Anstoß zur Würdigung des menschlichen Handelns. Die Besonderheit dieser typisch Tora-ethischen Reflexion – im Gegensatz zu einer humanen, psychologischen, soziologischen oder medizinischen – liegt in dem besonderen Blickwinkel, aus dem die Tora-Tradition den Menschen und seine Handlungen bewertet: nicht die Frage nach dem humanitären Charakter an sich, sondern die Frage nach dem “passen” einer bestimmten menschlichen Handlung innerhalb einer konkreten Situation im G’ttlichen Schöpfungsplan. Der Mensch empfängt die G’ttlichen Normen nicht passiv, sondern er muss sich aktiv mit ihnen auseinandersetzen.

Das Ethos der Tora ist auch auf den Menschen ausgerichtet

In der Sicht der Tora auf den Menschen und die Welt nimmt das humanistische Denken sicherlich einen wichtigen Platz ein. Aber es ist nicht nur das. Das Denken der Tora basiert auf der Interaktion zwischen Menschen und G’tt, dem Denken aus einer “Ich-Du-Beziehung” heraus, innerhalb derer der Mensch bestimmte höhere – eigentlich übernatürliche – Werte erfüllen (können) muss.

Dynamischer Charakter

Die Offenbarung der Tora auf dem Berg Sinai ist nicht statisch, sondern hat einen dynamischen Charakter, der in jeder Generation aufs Neue an der jeweiligen menschlichen Situation geprüft werden muss. Bei dieser Prüfung spielt der Mensch – und insbesondere die “Klasse” der Gelehrten – eine aktive und wichtige Rolle. Für die konkrete Leitlinie in der Praxis folgt man in der Regel der Mehrheitsmeinung der führenden Gelehrten.

Zielstrebigkeit und Pflichtbewusstsein vereinen

Die Tora-Ethik verbindet den zielorientierten (teleologischen) und den pflichtorientierten (deontologischen) Ansatz.

Beim teleologischen (vom griechischen Wort telos = Ziel) Ansatz werden das Ziel des menschlichen Handelns, seine Motivation und die Folgen eines bestimmten Verhaltens anhand von Begriffen wie gut und böse geprüft.

Beim deontologischen Ansatz (deon = Pflicht auf Griechisch) liegt der Schwerpunkt auf pflichtgemäßem Handeln. Die Tora-Ethik ist eine typische “Verantwortungsethik”: Bei jeder Handlung muss sich der Mensch fragen, ob er G’tt, sich selbst, seinen Mitmenschen und seiner Umwelt gegenüber wahrheitsgemäß handelt.

Argumente dagegen

Zusammenfassend argumentieren die Gegner der Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in den Niederlanden wie folgt

a.      Religiöse und Tora-Normen: “Wagen wir es, die Frucht, den die Belohnung G’ttes, zu töten?”

b.      Anstandsnormen: Die Verrohung unserer Gesellschaft manifestiert sich auf vielfältige Weise und untergräbt den “zivilisierten” Charakter unserer Gesellschaft.

c.      Schutz des ungeborenen Lebens.

d.      Kindsmord: Frauen, die abtreiben, und Ärzte, die sie dabei unterstützen, sind Kindermörder.

Beseelung des Fötus

Die folgende Diskussion ist im Talmud aufgezeichnet (B.T. Sanhedrin 91b): Antoninus, der Römische Herrscher im damaligen Israel, fragte Rabbi Yehuda haNassi: “Wann ist der Mensch beseelt: im Moment der Empfängnis oder in dem Moment, in dem der Fötus eine bestimmte menschliche Form entwickelt? Rabbi Yehuda antwortete ihm: “Von dem Moment an, in dem das Kind eine gewisse menschliche Gestalt angenommen hat”. 

Antoninus antwortete daraufhin: “Ist es möglich, dass ein Stück Fleisch ungesalzen drei Tage lang nicht verfault?  Meiner Meinung nach ist der Moment der Beseelung der Moment der Empfängnis”.  Daraufhin sagte Rabbi Yehuda: “Diese Angelegenheit wurde mir von dem Römer Antoninus beigebracht, und die Tora unterstützt seine Ansicht”.  Es ist auffällig, dass diese Diskussion zwischen Rabbi Yehuda und Antoninus in den nachtalmudischen Diskussionen völlig ignoriert wird. 

Heilig ab dem Moment der Empfängnis

Das Judentum lehrt, dass das menschliche Leben ab dem Moment der Empfängnis und sogar noch davor heilig ist. In jedem Stadium der Entwicklung muss menschliches Gewebe mit Respekt behandelt werden. Je weiterentwickelt und verwirklicht, desto mehr Respekt gebührt dem materiellen Teil des menschlichen Lebens.

Noch nicht lebensfähig

Raschi (1040-1105) erklärt, dass der Embryo noch keine lebensfähige Person im Sinne des Jüdischen Gesetzes ist. Das heißt aber nicht, dass Abtreibung erlaubt ist.

Die Frage, ob das Leben eines Fötus geopfert werden darf, um einen anderen Menschen zu retten, wird u. a. von Maimonides (1135-1204, Ägypten) behandelt.  Maimonides erlaubt die Tötung eines Embryos nur dann, wenn er ein Rodef, also eine Bedrohung für das Leben der Mutter, ist.  Im Falle eines Parkinson-Patienten ist der Embryo sicherlich nicht die Ursache seines Leidens.  Maimonides würde daher nicht zulassen, dass das Leben eines Embryos zu diesem Zweck geopfert wird. 

Mehrere Kommentatoren weisen darauf hin, dass Maimonides die Tötung von Embryonen offenbar als eine Form des Mordes ansieht, obwohl es keine Todesstrafe gibt (Responsa Igrot Mosche, 4:69 und 71).

Nicht auf Kosten eines anderen

Die Verwendung von embryonalem Gewebe mindert den moralischen Charakter unserer Gesellschaft. Es würde solchen Experimenten eine gewisse Legitimität verleihen und weniger gewissenhafte Personen dazu ermutigen, diese Art von unethischen Experimenten in Gesellschaften fortzusetzen, die sie nicht direkt verbieten.

Aus der umfangreichen jüdischen Literatur geht klar hervor, dass es nicht zulässig ist, einen Kranken auf Kosten des Lebens eines anderen Menschen zu heilen (Schach 4:163:18).