WIE GEHEN WIR IN DER JÜDISCHEN TRADITION MIT DEM LETZTEN KAPITEL DES LEBENS UM?

WIE GEHEN WIR IN DER JÜDISCHEN TRADITION MIT DEM LETZTEN KAPITEL DES LEBENS UM?

Wie geht die Jüdische Tradition mit dem Sterben um?

Das Judentum gibt im konkreten Sinn keine Antworten auf Fragen wie „Weshalb gerade jetzt?“ und „ Wieso gerade sie oder er?“. Der Talmud sagt hierzu: „Das Leben, die Kinder und die Finanzen hängen nicht von guten Taten ab, sondern von Glück. Rabba und Rav Chisda waren beide fromme Gelehrte; wenn der Eine um Regen bat, dann kam Regen auch und wenn der Andere um Regen bat, dann kam es auch. Jedoch lebte Rav Chisda zweiundneunzig Jahre, während Rabba nur vierzig Jahr alt wurde. Bei Rav Chisda wurden sechzig Hochzeiten gefeiert, während bei Rabba sechzig Beerdigungen efolgten. Bei Rav Chisda waren die Hunde so verwöhnt, dass sie selbst feines Brot nicht mochten, während es bei Rabba selbst für die Menschen nicht genug Gerstenbrot gab“

Das Judentum ist realistisch. Es weiß, dass der Tod Teil des Lebens ist und begreift, dass Selbstbetrug nicht gut tut. An Yom Kippur – dem Großen Versöhnungstag – verlangt die Tradition, dass man sich mit einem Kittel kleidet – dem einfachen weißen Kleidungsstück, dass das Leichentuch symbolisiert, wobei man nachdem dem Dahinscheiden, eingewickelt wird. Hiermit werden wir uns bewusst, dass die Tage gezählt sind und vorüberflogen.

Der Große Versöhnungstag ist eine jährliche Begegnung mit dem Tod. An dem Tag lässt der Mensch alle seine Genüsse los, rührt weder Essen noch Trinken an und segnet seine Kinder wie zum Abschied. Man ist den ganzen Tag mit der Liturgie beschäftigt, die die Zerbrechlichkeit des Menschen betont und man empfindet seine Vergänglichkeit wie an keinem anderen Tag.

Ein zweites Beispiel dieses Wirklichkeitssinns sind die Gebete, die gesprochen werden müssen, wenn jemand verstirbt. Die Worte sind kurz, einfach und direkt.

ETHISCHES TESTAMENT

Ein bedeutsamer Jüdischer Brauch ist das Schreiben eines „ethischen Testamentes“. Heutzutage wird das Regeln der Erbschaft an Rechtsanwälten, an Notare oder an Banken übertragen. Unsere Ahnen hatten weniger Eigentum, um das sie sich sorgen machen mussten, aber sie waren mehr besorgt um die Frage, ob ihre Werte und Prinzipien, nach denen sie gelebt hatten, auch einen Weiterbestand haben würden. Ein solches Testament wurde in einer Zeit geschrieben, in der man noch vollkommen gesund war und es beinhaltete eine Zusammenstellung von Lebensregeln und Zielen, die sie bei ihren Kindern verwirklicht sehen wollten.

DIE GEMEINSCHAFT

In letzter Zeit ist im Westen, seit der Säkularisierung und der Aufweichung der sozialen Netzwerke, eine Verwässerung der Verhaltenvorschriften nach einem Sterbefall eingetreten. Die allgemeinen Kenntnisse auf dem Gebiet der Sterberituale haben abgenommen, so dass die Trauernden und Begleitpersonen nicht mehr genau wissen, wie man sich zu verhalten hat oder widersprüchliche Forderungen stellt.

In vielen Kreisen ist das soziale Netzwerk noch immer besonders fest. Alle Vorschriften des Trauerrituals sind – zumindest in den Hauptpunkten – weit und breit bekannt. Für die Familie gelten klare Regeln und Beschränkungen und auch die Außenstehenden werden nicht im Unsicheren gelassen. Auch diese haben, besonders nach der Beisetzung, eine klare und wichtige Rolle, so dass sie genau wissen, was von ihnen erwartet wird. Die Gemeinschaft nimmt Anteil an der Freude und dem Schmerz eines jeden Einzelnen.

In schwierigen Zeiten lässt die Gemeinschaft den Trauernden wissen, dass er nicht allein da steht. Seine erste Mahlzeit wird von anderen besorgt. Der Dienst des Gebetes verlagert sich von der Synagoge zu seiner oder ihrer Wohnung, so dass man sich als Teil der Gemeinschaft weiß, selbst im dem Moment, in dem man sich am meisten isoliert fühlt. Während des gesamten Trauerjahres betet man nicht allein, sondern zusammen mit der Gemeinschaft, die zwei Mal täglich zusammen kommt.

Die Gemeinschaft ist nicht nur ein horizontaler Begriff, sie hat auch eine vertikale Bedeutung. Die biblische Bezeichnung für Sterben lautet: „versammelt werden bei seinem Volk“ oder „versammelt werden bei seinen Vätern“. Wenn man verstirbt, wird man ein Teil der Geschichte.

Das Trauern ist dann auch eine Angelegenheit, bei der die gesamte Gemeinschaft teilnimmt und sie wird nicht auf die private Ebene reduziert.

ABFOLGE

Ein weiteres wichtiges Merkmal des Jüdischen Trauerprozesses ist die klare Abfolge von Stufen, bevor jemand dauerhaft über seinen Verlust hinaus wachsen kann. Rabbiner Hirsch sagte hierzu: „ Jede weitere Stufe muss die vorhergehende Stufe in sich beinhalten; im Grunde ist es so, dass man mit der nächsten Stufe erst beginnen kann, wenn die vorhergegangene vollständig abgeschlossen wurde“. Formell gibt es fünf Trauerstufen:

  • Aninut: vom Anbeginn des Sterbens bis zur Beisetzung.
  • Awelut: Vom Moment der Beisetzung bis sieben Tage nach der Beisetzung.

Niwul: ab dem achten Tag der Beisetzung bis einschließlich des dreißigsten Tages nach der Beisetzung. Beim Tod einer der Eltern gilt ein abweichender Termin: Bis das verwahrloste Aussehen abstoßend wirkt, oder sonst drei Monate (in den Niederlanden zweiunddreißig Tage).

  • Trauerjahr: bis zu EINEM Jahr nach dem Eintritt des Todes.
  • Jahrzeit: Tag der Erinnerung und der Besinnung, jedes Jahr am Sterbedatum.

An besonderen Tagen wird der Verstorbenen in einem speziellen Jiskor-Gebet in der Synagoge gedacht und ihre Namen verlesen.