In Wa’etchanan lesen wir „Du sollst nicht morden“ (Dewarim/Deut. 5:17) aus den Zehn Geboten. Ist das mit der Euthanasie zu vereinbaren?
In manchen Kreisen wird schon mal behauptet, dass das Leben „keinen absoluten Wert“ hätte. Ohne Kommunikation mit G“tt und dem Mitmenschen könnte von einem sinnvollen Leben keine Rede sein. Zu leiden sei schlimm und könnte „somit“ beendet werden, durch einen „glaubhaften“ Wunsch nach „Euthanasie“ gerechtfertigt. Ich weiß nicht, ob es richtig sei, dass es „eine Einheit zwischen Bitten und Handeln geben sollte, der Patient ohne den heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft sowieso verstorben wäre, so dass wir „also“ den frommen Wunsch nach Beendigung des Lebens nicht unbeachtet lassen dürfen“. Die Thora lehnt die Euthanasie ab! Andere legen noch einen drauf: „die Euthanasie bedeutet einen guten Tod und was gibt es Besseres, als in der „Welt danach“ unter den Flügeln der G“ttlichen Majestät zu verweilen?“
Zuerst eine kleine Anekdote und einige reellen Fragen, bevor ich zu einer mehr inhaltlichen Argumentation meiner Stellungnahme gegen die Euthanasie aus Sicht der Zehn Gebote überleite. Vor einigen Jahren erzählte mir ein Arzt, der sich mit der Bibel und ihren Inhalten befasste, dass die Frau eines sich im Endstadium befindlichen Patienten ihn gebeten hätte, „jetzt nun doch zu einem Schluss zu verhelfen“. Der Arzt weigerte sich. Zwei Monate später bedankte sich die Frau beim Mediziner für seine Weigerung. Die letzten zwei Monate wären die schönste Zeit deren Lebens gewesen, wie paradox das auch klingen möge!
In Bereschit/Genesis 9:5 wird erwähnt, dass auch das Töten aus Liebe oder aus Mitleid eine Art von Totschlag sei: „Und wahrhaftig, ICH werde Dein eigenes Blut verlangen – das Verbot auf Selbstmord – und aus der Hand des Menschen, aus der Hand von jemands Bruder, werde ICH das Leben des Menschen anfordern“. Der Ausspruch „aus der Hand von jemands Bruder“ scheint überflüssig, denn Brudermord ist kein geringeres Vergehen als ein gewöhnlicher Mord. Diese Wörter im Thoratext beinhalten das Verbot, um liebevoll zu töten. Diese Auffassung ist bei allen traditionellen Jüdischen Schreibern aus fast jeder Generation ersichtlich. Das Verbot der Euthanasie steht nicht im Widerspruch zum Gebot „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“. Ein Leben mit Schmerzen ist dem Abbruch eines leidvollen Lebens zu bevorzugen. Besagte nicht bereits der Psalmist: „G“tt hat mich schwer kasteit, aber dem Tod hat ER mich nicht ausgeliefert“? (Ps.118:18).
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Diese Thora-Auffassung basiert auf der Gewissheit (nicht einfach nur auf „Glauben“), dass nicht nur das menschliche Leben von unschätzbarem Wert sei, sondern dass ebenfalls jeder Augenblick „lebenswichtig“ sei. In der vorbereitenden Phase, die bevor steht, kann man gerade im Hinblick auf das Leben im Bereich danach noch viel verändern. Wir gehen davon aus, dass man sich in einem Augenblick von einem „Bösewicht“ in einen rechtschaffenen Menschen wandeln kann, der seinem Schöpfer ohne Angst entgegen treten kann, so, wie der Talmud das zutreffend ausdrückt: „Manche erwerben ihren Platz in der Künftigen Welt in einigen Augenblicken“. Wir dürfen vor G“tt unter keinen Umständen etwas vorgaukeln und als Engel der Barmherzigkeit das Heft in die eigenen Hände nehmen.
Die Euthanasie oder leben bleiben ist – bei näherer Betrachtung – eine Frage nach dem Sinn des Leidens. Zu leiden hat in unserem Zusammensein eine negative Nuance. Ein religiöser Mensch jedoch sieht auch den positiven Wert von Leid. Der Mensch hat die Aufgabe, in sein Leben auch das Böse oder Schlechte zu integrieren und hieraus etwas Positives zu schaffen. Der Tod kann auch einen zutiefst läuternden und bedeutenden Inhalt haben, indem er als Bestandteil des Lebens akzeptiert wird. Heutzutage ist das jedoch zu viel verlangt: für den modernen Menschen, der sein Glück in allerhand Arten von materieller Expansion sucht, ist dieses nicht nach zu empfinden. Hatte sein Leben bereits wenig moralischen Inhalt, sein Tod umso mehr; die Produktions- und Konsumiergesellschaft im weitesten Sinne!
Rabbi Jehuda, der Gründer des Talmud aus dem zweiten Jahrhundert, litt an einer furchtbaren Krankheit. Seine Betreuerin bat um seinen Tod. Der Mensch darf G“tt bitten, ihn selber oder einen anderen von seinen irdischen Verpflichtungen zu entlassen, wenn die Grenze des menschlichen Ertragsamen überschritten wurde. Aber die letztendliche Entscheidung liegt bei G“tt; der Mensch darf sich nicht auf den Stuhl des Richters zur Rechtsprechung über sich selbst setzen. Religiöser Tiefgang darf nicht durch eine Spritze ersetzt werden!