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Siamesische Zwillinge – Jüdische Antworten

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Siamesische Zwillinge – Jüdische Antworten

Siamesische Zwillinge

Am vergangenen Sonntag stand es groß auf der Vorderseite der „BILD“-Zeitung:

„Ein Wunder! Siamesische Zwillinge wurden voneinander getrennt. Die Operation dauerte 27 Stunden. Der Zustand der Kinder ist kritisch, aber sie leben!“

Ich möchte Ihnen die Fotos und die Einzelheiten ersparen, aber als Rabbiner habe ich mich in die Problematik vertieft, welche Antworten das Judentum auf so eine Operation gibt und wie es so eine Operation beurteilt.

Gelegentlich wird die Rechtssprechung zu dieser Art von Operationen hinzugezogen.

Ende September 2000 zum Beispiel musste das britische Berufungsgericht über das Leben von siamesischen Zwillingen entscheiden. Nichts zu tun, das würde zwei Tote bedeuten. Zu handeln bloß einen Toten, so das britische Gericht. Es wurde entschieden, die Operation zur Trennung der siamesischen Zwillinge Jodie und Mary durchzuführen, während die Letztere leider ums Leben kam. EINER der britischen Richter beschrieb seine Gefühle mit den Worten: „In dem Augenblick, wenn das Messer, in die aneinander gewachsenen Körper eindringt, ist es ein direkter Angriff auf Mary“.

Die ethische Frage hierbei lautet: dürfen wir das Leben der einen Hälfte der Zwillinge zum Wohle des Lebens des anderen opfern?

Das britische Gericht beurteilte diese Frage positiv, da die Alternative schlimmer sei.

In den Beneluxstaaten und England gab es viel Kritik an dieser Entscheidung. Da die Eltern die Operation nicht wollten, fragten sich viele Ethiker, ob die Eltern nicht mehr Mitspracherecht bei der Entscheidung, diese durchzuführen, erhalten hätten sollen. Einige behaupteten nun somit, dass jetzt ein Präzedenz-Fall geschaffen sei, durch den es erlaubt wäre, eine unschuldige Person zu töten.

Bei der Geburt schienen die Unterkörper von Mary und Jodie zusammengewachsen zu sein. Sie teilten sich dieselbe Wirbelsäule, hatten aber beide jeweils eigene Arme und Beine. Mary war für ihre Sauerstoff- und Blutzufuhr total von ihrem Schwesterchen Jodie abhängig. Bei allen Ethikern herrschte große Verzweifelung. Würde Jodie es überhaupt schaffen? Würde sie später durch diese Operation nicht geplagt von Schuldgefühlen sein, weil sie auf Kosten ihres Schwesterchens überlebt hatte?

SALOMO´S URTEIL

In der Tat, eine furchtbar schwierige und dramatische Entscheidung über das Leben dieser Zwillinge. Jedoch finde ich viele Reaktionen auf die Entscheidung des britischen Gerichtshofes unüberlegt und heuchlerisch. Ist es wirklich so viel besser, die Eltern selber entscheiden zu lassen, welches ihrer Kinder am Leben bleiben darf und welches nicht? Ich bin froh, dass eine übergeordnete Instanz die Verantwortung übernommen hatte, denn die Eltern konnten und durften nicht, hier – auf jeden Fall nicht allein – darüber entscheiden!

Es würde von Eltern ein „Salomonisches Urteil“ erfordern, die hiermit vollkommen überfordert wären. Vor allem durch die Tatsache, dass sie die persönlich Betroffenen der beiden Kinder waren. Es ist auf alle Fälle richtig, eine neutrale Instanz gerade hierbei einzuschalten und nur eine minimale Beratung zu zulassen. Deshalb halte ich es überhaupt nicht für abwegig, dass es die Britische Oberhoheit auf sich genommen hatte.

Dass tiefgläubige Eltern sich auf G“ttes Willen berufen, nicht zu operieren, ist ihr gutes Recht. Aber um deshalb gleich beide Töchter sterben zu lassen, geht mir einen Schritt zu weit. G“ttes Willen steht in der Bibel geschrieben; es steht in Exodus (21:19), dass man versuchen sollte, sogut wie möglich zu genesen. Im bereffenden Fall bedeutet das: retten, was es zu retten gibt.

Also, wenn nichts zu unternehmen zwei Tote bedeutet, ist etwas zu tun – wobei eine Tote zu beklagen sein wird – aus Sicht der Bibel besser. Wie klinisch kaltherzig, hart und bitter dieses Urteil auch erscheinen mag.

Riskant

Auch wenn Jodie den Eingriff vielleicht auch nicht überlebt, ist für diese Entscheidung irrelevant. Jede medizinische Handlung unterliegt einer Chancenberechnung; die Ergebnisse sind nie gesichert. Die Gewissensbisse, mit denen der überlebende Einling zurückbleibt, hängen von der Frage ab, ob die Eltern sich verpflichtet fühlen, ihr davon zu erzählen, dass sie früher Teil eines Zwillings war. Meiner Ansicht nach sollte das nicht erfolgen und da großer psychologischer Schaden zu befürchten ist, finde ich, dass es – soweit möglich- verboten werden sollte. Das Judentum verbietet es, Menschen mit unnötigen schmerzhaften Gefühlen zu belasten. Die Reaktionen empfinde ich als heuchlerisch, da beispielsweise in den Niederlanden jährlich ungefähr fünfundzwanzigtausend Abtreibungen erfolgen und die Niederlande bei der Genehmigung von „Euthanasia medicinalis“ (bestimmte Formen der Sterbehilfe) auf Platz eins stehen. Ein Menschenleben ist recht billig geworden. Aber bleiben wir beim Hauptthema beschränken.

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TALMUD UND RESPONSEN

Die ersten bekannten siamesischen Zwillinge waren Eng und Scheng, die im Jahr 1811 geboren wurden. Sie heirateten in 1855 zwei britische Schwestern, die damals 26 und 28 Jahre alt waren. Scheng bekam sechs gesunde Kinder und Eng fünf. In der Antike werden viele Fälle von siamesischen Zwillingen erwähnt und auch im Talmud (der im Jahr 500 nach der Zeitrechnung niedergeschrieben wurde) kommen unterschiedliche Fälle vor.

Zu König Salomo wurde irgendwann ein Mann mit zwei Köpfen gebracht. Er versuchte festzustellen, ob das EINE oder ZWEI Persönlichkeiten waren.

Hierzu schüttete er heisses Wasser über den einen Kopf, worauf auch der andere Kopf vor Schmerzen schrie. Er folgerte daraus, dass „beide Köpfe nur EINE gemeinsame Quelle besaßen und somit die siamesischen Zwillinge als EINE Persönlichkeit zu sehen seien“.

Dieses war vielleicht bei dem Versuch von König Salomo der Fall, aber die meisten Zwillinge, die aus der Literatur oder allgemein bekannt sind, zeigen eindeutig zwei unterschiedliche Persönlichkeiten auf. Rabbi Jacob Reischer veröffentliche in 1709 hierüber eine Abhandlung. Er vermerkte eingangs „dass
es nichts Neues unter der Sonne gibt“ und benennt zwei talmudische Aussagen, in denen Adam und Eva als siamesische Zwillinge erschaffen wurden. Sie wurden erst später getrennt.

EINE ANTWORT ÜBER DIE JAHRHUNDERTE HINWEG

Rabbi Reischer sieht somit einen Hinweis darauf, dass siamesische Zwillinge unterschiedliche Persönlichkeiten sind, da die Bibel es wie folgt besagt: „männlich und weiblich hat G“tt sie geschaffen… und Er gab ihnen den Namen Adam“ (Genesis 5:2).

Auf die Jüdische Rechtsprechung hat das viele unterschiedliche Auswirkungen.

Einerseits kann jeder Teil der siamesischen Zwillinge einen eigenen Erbteil beanspruchen, aber andererseits werden sie nie heiraten können, da die Vorschriften von Intimität dem Zusammenleben in Anwesenheit einer dritten Person widersprechen.

Eine andere Autorität aus dem siebzehnten Jahrhundert, Rabbi Jacob Hagis, beschreibt den Fall, in dem der Körper des einen Zwillings wesentlich kürzer war als der Körper des anderen. Seine Beine reichten noch nicht mal so weit, dass seine Füße den Boden berühren konnten. Sie hatten wohl einen gemeinsamen Blutkreislauf, so Rabbi Hagis. Er betrachtete sie jedoch als eigenständige Personen, obwohl er den kleineren Zwilling, der auch keinen Schmerz empfinden konnte und auf Kosten des Lebens des Größeren „parasitierte“, als weniger „wirklich lebend“ empfunden als den Größeren.

DER FALL AUS PHILADELPHIA

Im Jahre 1977 wurden Zwillinge in Philadelphia geboren, die an der Brust zusammengewachsen waren und in der EIN normales Herz mit vier Kammern mit einem schwachen Herzen verbunden war, das nur zwei Kammern enthielt. Die Eltern baten Rabbi Mosche Feinstein um seine Genehmigung, die Zwillinge von einander trennen zu dürfen, während die Operationsschwestern einen Theologen zu Rate zogen. Dr. Coop, der Chirurg, sicherte sich juristisch beim Richter für Kinder gegen mögliche Anschuldigungen wegen Totschlags ab, indem er seine Erlaubnis zur Durchführung dieser schwierigen Operation einholte.

Rabbi Mosche Feinstein zitierte eine talmudische Quelle, aus der man eine Entscheidung ableiten könnte. Lassen wir uns den aktuellen Fall nochmals vor Augen führen: Mary ist für ihre Sauerstoff- und Blutzufuhr vollkommen von ihrem Schwesterchen Jodie abhängig. Jodie würde die Operation wahrscheinlich überleben, Mary jedoch nicht.

In der talmudischen Diskussion wird bei ähnlich gelagerten Fällen schonmal auf das „Gesetz des Nachrückenden“ zurückgegriffen.

Es beinhaltet den Passus, der besagt, dass wenn der eine den anderen lebensgefährlich bedroht und keine anderen Möglichkeiten bestehen, das Opfer zu retten, der Aggressor getötet werden darf. Wenn, wie im geschilderten Fall, davon auszugehen ist, dass der schwächere der b
eiden, den stärkeren lebensgefährlich bedroht, kann dieser schwächere als ein „Nachrückender“ betrachtet werden. Rabbi Mosche Feinstein entschied, dass die Operation durchgeführt werden durfte.

Von Oberrabbiner R. Evers LL.M MSc

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