Parascha Nizzavim Vajelech
Der letzte Schabbat vor Rosch Haschana: Benehmen Sie sich auch in zwischenmenschlichen Angelegenheiten gut!
Missbrauchen Sie nicht Ihre Rechte.
Auch verbale Beleidigungen sind in den Augen Gottes ein schweres Vergehen
Schabbat Nizzavim Vajelech. An diesem letzten Schabbat vor Rosch Haschana standen wir alle noch einmal vor HaScheem (G’tt): Derjenige, der für gerecht befunden wird, wird für das Leben eingeschrieben werden. Die Entscheidung für diejenigen, die sich in der Zwischenkategorie befinden, wird bis Jom Kippur warten. Wenn wir Teschuwa tun, wird alles gut ausgehen. Das gilt für alle Bereiche des Lebens, auch für die zwischenmenschlichen.
Immer sensibler
Wie weit dürfen wir mit unserem Recht auf freie Meinungsäußerung gehen? Ich habe mich z.B. über das Ergebnis einer Umfrage gefreut, wonach 70 % der Niederländer der Meinung sind, dass “diese Freiheit nicht dazu führen darf, die religiösen Überzeugungen anderer zu verletzen”. Letztes Jahr waren es nur 58 %.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung sollte sehr vorsichtig genutzt werden
Im Talmud ist eine Aussage von Hillel (1. Jahrhundert) überliefert, als er von einem Nichtjuden gebeten wurde, die gesamte Tora zu lehren, indem er sich auf einen Fuß stellte.
Hillel sagte: “Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu. Das ist die Essenz des Gesetzes – der Rest ist Erklärung” (Talmud Schabbat 31a).
Auch im Deutschen und Niederländischen Recht gibt es keine unbegrenzten Grundrechte. Selbst bei freier Meinungsäußerung ist es nicht erlaubt, falsche Dinge über den König, Staatsgeheimnisse oder Gruppen zu sagen. Diskriminierung ist verboten. Der Holocaust darf nicht geleugnet werden.
Selbstbeschränkung
Trotz des hohen Gutes der Meinungsfreiheit hat dieses Grundrecht auch einige Grenzen. Selbstbeschränkung ist letztlich die Anerkennung und der Respekt vor den Rechten anderer wie auch vor den eigenen.
Das Jüdische Gesetz verbietet Klatsch und Beleidigung. Redefreiheit bedeutet niemals, dass man aus Frustration heraus andere beleidigen darf.
Aber das gilt selbstverständlich in beide Richtungen.
Das merkwürdige Phänomen, die Meinungsfreiheit für sich selbst in Anspruch zu nehmen, sie aber für andere nicht anzuerkennen, ist mittlerweile in verschiedenen Gruppen unserer Gesellschaft üblich und normal geworden.
Das ist schade! Es trägt nicht gerade zu gegenseitigem Verständnis und Respekt bei. Und es untergräbt auch direkt die Glaubwürdigkeit der Rechte, die die Menschen für sich selbst beanspruchen.
Die Anerkennung und der Respekt vor den Rechten und Freiheiten anderer sollte immer für jeden gelten, der Rechte für sich selbst beansprucht.
Und warum? In einem Rechtsstaat kann doch alles gesagt werden, oder?
Aber nein. Außerdem ist es ein Zeichen von Frustration, wenn man andere beleidigen oder demütigen will. Ein anständiger Mensch sollte das gar nicht wollen.
Wir sollten positiv und konstruktiv in der Welt sein. Unsere Meinungen sollten idealerweise etwas Positives vermitteln und auch etwas Substantielles beitragen.
Andere einfach nur zu demütigen, kann niemals die Absicht des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung gewesen sein. In manchen Situationen wird sogar die Stigmatisierung und systematische Beschuldigung und Ausgrenzung, wie sie letztlich zum Holocaust führte, lebensbedrohlich.
Ohne Unterschied?
Nein, denn selbst das Gesetz sieht eine Ausnahme für besonders sensible Themen und gefährdete Gruppen vor.
Art. 7 der Niederländischen Verfassung: Niemand braucht eine vorherige Erlaubnis, um Gedanken oder Gefühle zu offenbaren, vorbehaltlich der Verantwortung eines jeden nach dem Gesetz.
Richtig, es geht nur um Verantwortung. Übernehmen Sie die Verantwortung für Ihre Aussagen, indem Sie sie klar auf Fakten stützen, nicht zu einseitig sind (hören Sie sich beide Seiten und ihre Meinungen an, sagt die Tora) und darauf achten, nicht unnötig zu verletzen. Das wäre eine schöne und reife Erklärung für die Worte “Verantwortung gegenüber dem Gesetz”.
Und wer entscheidet dann, was sorgfältig ist?
Kein Einzelner, nein, wir alle. Es geht um Zeit und Ort. Es geht um zwischenmenschliche Sensibilität. Im Haus der Gehängten spricht man nicht über den Galgen.
Es ist keine Kunst, alle um einen herum zu beleidigen. Mir geht es hier nicht um die Angst vor Angriffen, sondern um zwischenmenschliche Werte, Normen und Anstand. Diese sprudeln natürlich aus dem Inneren anständiger Menschen. Der Anstand gebietet es, auf die Gefühle der anderen ganz klar Rücksicht zu nehmen.
Bei allen Appellen an die Freiheit geht es bei den Menschenrechten letztlich darum, ein friedliches, menschliches und humanes Umfeld zu schaffen. Und das ist nur möglich, wenn man auf viele andere Menschen, ihre Überzeugungen, Ideale, Werte und Normen Rücksicht nimmt.
Die Legalisierung aller Arten von soziale Problemen und Reibungen, ist keine gute Sache. Viele Dinge können wir einfach in unserem Inneren spüren. Wir sollten nicht immer an die Grenzen des Gesetzes gehen wollen, nur um unser Recht durchzusetzen. Manchmal ist es sogar moralische Feigheit, alles den Gerichten überlassen zu wollen. Das ist nur menschlich und hat nicht immer die ganze Weisheit. Auch der Richter hat seine Grenzen und auch der juristische Weg ist nicht die Lösung für alle sozialen Missstände.
Selbst bei Moses und Aaron – aber geht es da jetzt nicht um Freiheit, sondern um Respekt?
Die Redefreiheit ist keine Insel in sich selbst. Sie ist eines der Menschenrechte und als solches eingebettet in die der Gesamtheit aller Menschenrechte. Der Zweck der Menschenrechte ist die Schaffung einer friedlichen Gesellschaft mit Grundwerten, in der jeder seine Fähigkeiten und
Talenten so weit wie möglich entfalten kann und darf. Die rechtliche Realität ist nur
ein kleiner Teil der Wirklichkeit. Recht kann nur dort gedeihen, wo Anstand und Respekt die Grundlage für eine tolerante Gesellschaft bilden.
Selbst Moses und Aharon – obwohl sie Abgesandte G’ttes waren – mussten dem Mörder Pharao dennoch mit großer Ehrfurcht begegnen. Auch sie waren weiter in ihrer Geschichte in der Tora, fähig, den `Schalom’ Frieden höher zu stellen als ihre eigene `Kowed’, Ehre.
Die Anschwärzung anderer ist in fast jeder Rechtsordnung verboten. Sicherlich gilt das dann auch für Dinge, die ganze Bevölkerungsgruppen schwer verletzen.
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Relativierungen und ein wenig Selbstironie gehören seit jeher zu unserer Tradition. Aber das ist auch unser Verdienst. Wir können nicht immer anderen die Schuld dafür geben, dass wir dazu nicht in der Lage sind. Nein, es gibt kein Recht auf (unnötige) zwischenmenschliche Verletzungen.
Warum sollte das Verspotten einer religiösen Meinung schwerer wiegen als das Verspotten einer gewöhnlichen Meinung?
Weil die Religion in der Regel darauf abzielt, ein dauerhafteres System höherer Werte zu vermitteln.
Außerdem berührt die Religion bei religiösen Menschen sehr oft den Kern ihrer Existenz, ihre Ideale und ihren Lebenszweck. Wenn man das berührt, berührt man die Essenz der Person. Und das sollte man gar nicht wollen: das Wesen eines anderen Menschen verletzen.
Wenn Sie das tun, zeigt das, dass Sie nicht viel über die Grundlagen der Menschenrechte wissen.
Aber das heißt natürlich nicht, dass jeder lange Zeh respektiert werden sollte. Es gibt Grenzen…
Haben Gläubige zu lange Zehen?
Vielleicht ja; das ist ein sehr sensibles und wichtiges Thema. Bei den Juden kommt noch die extreme Verfolgung – vor, während und nach dem Holocaust – hinzu, die ihnen deutlich gemacht hat, dass eine schlechte Presse manchmal direkt zum Tod führt. Überempfindlich? Das glaube ich nicht, denn das war die Realität bei vielen Pogromen, vom Blutmärchen bis zu Streicher.
In unserem Kulturkreis ist eine der ersten Lektionen, dass wir nicht sofort eine Kalaschnikow gegen religiösen Unfrieden einsetzen, sondern weiter zu reden und zu diskutieren, um eine akzeptable zwischenmenschliche Lösung zu finden.
Ein tragischer Nebeneffekt des Terrors ist, dass Juden oft direkt, aber auch indirekt zu Opfern werden.
Nicht nur durch den Anschlag selbst, sondern auch durch die Folgen? ‘Der Mossad steckt dahinter.’
Wie weit ist dieser Gedanke verbreitet? Ziemlich weit, leider!!!
Ist das Verschwörungsdenken? Ja, und es sollte so schnell wie möglich aus den Köpfen einiger Gruppen verschwinden.
Studenten in Amsterdam West haben darauf bestanden, dass diese Anschläge eine zionistische Verschwörung waren? Wer ist hier naiv?
Keiner muss naiv sein. Manchmal sind wir in tödlicher Gefahr, wenn wir (zu) naiv sind. Gegen diese gefährlichen Wahnvorstellungen muss entschieden vorgegangen werden.
Aber dann ist in der Erziehung etwas grundlegend falsch gelaufen, oder?
Ja, und das müssen die Eltern selbst und die Schulen korrigieren. Das hat nichts mit der Realität zu tun und ist eine offensichtliche antisemitische Fiktion im Gefolge des altehrwürdigen Blutmärchens.
Sollte man den Radikalismus nicht zuerst in den eigenen Reihen bekämpfen?
Das scheint eine wichtige Aufgabe in einer demokratischen und verantwortungsvollen Gesellschaft zu sein. Man sollte die Demokratie und die Meinungsfreiheit nicht missbrauchen, um die Demokratie selbst zu zerstören.
Das jüdisch-marokkanische Neue Netzwerk kommt zu dem Schluss: Wir sollten den Nahostkonflikt nicht importieren. Ja, ist das nicht genau das ganze Problem?
Was sie damit sagen wollen, ist, dass die Regierung alle möglichen Mittel einsetzen sollte, um eine friedliche Gesellschaft zu gewährleisten. Die Regierung kann dies tun, indem sie klar gegen den Extremismus in all seinen Auswüchsen Stellung bezieht, wie Maimonides (1140-12050) sagt, dass nur der goldene Mittelweg die Regel ist.
Darüber hinaus muss durch Erziehung und Justiz Jung und Alt klargemacht werden, dass hartes Verhalten von Gleichaltrigen oder primitives Nachahmungsverhalten eine Garantie für soziale Entgleisungen sind. Und das war nie die Absicht unserer hoch entwickelten Gesellschaft.
Sollten wir seit der Verbreitung des Islam im Westen mit unseren Worten vorsichtiger sein? Also Selbstzensur, weil sonst mehr Terrorismus folgt?
Ist das nicht eine Erpressung?
So gesehen ist das definitiv Erpressung; wenn ein Volk dem Terror erliegt, geht das Licht aus….
Soweit darf es auf keinen Fall kommen.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Sensibilität für die Normen und Werte anderer Menschen ein hohes Gut bleibt.
„Selbst Worte können tiefe Wunden hinterlassen”, debattierte Ministerpräsident Balkenende nach dem Mord an Van Gogh.
Ich plädiere für Mäßigung, jüdische Solidarität, aber auch für Zurückhaltung als Ausdruck unseres Anstands und gegenseitigen Respekts.
Aber niemals als Antwort auf den Terrorismus; wenn ein Volk dem Terror erliegt, geht das Licht aus.
Deshalb ist bei uns auch jede Form der Schadenfreude verboten. Keine jubelnden Menschenmassen auf den Dächern von Tel Aviv, wenn Israel nach x Jahren Bombardierung endlich einmal versucht, Schweigen in die Gebiete, aus denen die Bombardierung stammt, zu bringen: “Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt” (Sprüche 24,17).
Sukkot, das Laubhüttenfest, wird die “Zeit unserer Freude” (zeman simchatenu) genannt. Aber an Pessach rufen wir die Simcha (Freude) nicht aus vollem Halse. Wir feiern unsere Unabhängigkeit nach dem Exodus. Aber weil dies auf Kosten der Ägypter, unserer Henker, geschah, freuen wir uns nicht. Bei der Verkündigung der 10 Plagen tauchen wir in der Seider-Nacht den Finger in Wein, um zu zeigen, dass wir uns nicht freuen, auch nicht über die Opfer der anderen Seite. Daraus könnten viele lernen.
Wir sind das Volk des Buches. Vor allem auf längere Sicht dürfen wir uns nicht auf das Niveau unserer Feinde herablassen. Jüdische Solidarität ist die einzige Überlebensstrategie, die vor 3.400 Jahren Früchte trug und auch heute noch funktioniert. Glücklicherweise ist die Solidarität auch heute noch stark.
Die Identität des jüdischen Volkes in Ägypten zeichnete sich durch vier Dinge aus: Es änderte seinen Namen und seine Sprache nicht, war sexuell enthaltsam und es gab keine Spitzel unter ihm (Vajikra Rabba 32:5). All diese Aspekte deuten auf Einheit und Zusammengehörigkeit hin. Niemand wollte diese Einheit brechen, auch wenn es viel Leid kosten würde.
Worum geht es am Ende? Die Vervollkommnung unserer Gesellschaft – tikkun olam – und die Entfaltung unserer individuellen und gemeinschaftlichen Identität.
Und für uns ist Schalom ein wichtiger Teil unserer Identität: In jedem Gebet, jedem Wunsch und jedem Gruß verwenden wir das Wort Schalom, Frieden…