Erkennt die Halacha eine DNA Analyse als ausschlaggebenden Beweis für Zugehörigkeit zum jüdischen Volk an?
Wenn es nach dem amerikanischen Genforscher Harry Ostrer geht, kann man das jüdische Volk eindeutig für eine ethnische Gesamtheit halten. In seinem Buch mit dem Titel Legacy: A Genetic History of the Jewish People (Oxford University Press, 2012) belegt er, dass jüdische Menschen nicht nur Glaubensbrüder sind, sondern tatsächlich ein Volk im gängigen Sinne.
Für mich kommt das nicht überraschend, weil es sich für mich gefühlsmäßig immer schon so verhielt – aber den wissenschaftlichen Beweis dafür zu liefern, ist natürlich eine ganz andere Sache. Auch ich habe an bereits einigen genetischen Untersuchungen teilgenommen. Interessanterweise stellte sich heraus, dass die aschkenasischen Juden noch direkter miteinander verbunden sind als andere Juden. Die Verwandtschaftsverhältnisse konnten verglichen werden mit Beziehungen zwischen Neffen fünften oder sechsten Grades.
Mit Kritik an Ostrers Theorie wurde nicht gespart. Der israelische Historiker Schlomo Sand etwa betrachtet das jüdische Volk nur als Glaubensgemeinschaft, ohne nennenswerte gemeinsame physische Merkmale.
Mich persönlich interessiert der halachische (jüdisch-juristische) Aspekt dieser Frage. Erkennt die Halacha eine DNA-Analyse als ausschlaggebenden Beweis für Zugehörigkeit zum jüdischen Volk an? Das wäre für viele jüdische Kinder, die im Zweiten Weltkrieg im Versteck überlebt haben und deren Dokumente vernichtet wurden, eine Hilfe.
Kann durch die DNA Analyse die Identität von Terroropfern eindeutig festgestellt werden, damit ihre Kinder Schiwa sitzen und ihre Männer oder Frauen nach einer gewissen Zeit wieder heiraten können? Können Menschen, basierend auf DNA-Tests, zur Zahlung von Unterhalt für ihre Kinder verurteilt werden? In der europäischen Rechtsprechung wird das DNA als zulässiges Beweismittel angesehen, aber in der halachischen Literatur gibt es große Zweifel daran, ob man Zugehörigkeit zum Judentun mittels einer DNA-Analyse nachweisen kann.
Auch vor einem Beit Din kann mittels DNA-Analyse eine Beweislast erbracht werden. Wenn ein Sohn oder eine Tochter seinen oder ihren leiblichen Vater ausfindig machen will, dann kann er oder sie einen DNA-Test verlangen. Doch dies birgt ein gewisses Risiko. So kann es sein, dass das Testergebnis ihn oder sie als (halachisch-juristischen) »Bastard« (Mamser) ausweist, was keineswegs hilfreich wäre.
Unsere Weisen haben für diesen Fall eine halachische Lösung gefunden. Weil DNA-Analysen keine 100-prozentige Zuverlässigkeit aufweisen, wird bei falschen Testergebnissen das Kind nicht automatisch als »Mamser« definiert. Die Tora fordert nämlich, dass der Mamser-Status einer Person zweifelsfrei festgestellt werden muss und das ist mit DNA-Tests nicht möglich.
Doch bei finanziellen Ansprüchen reicht auch einen geringer Beweis aus. Deshalb ist der Vaterschaftstest durch DNA als Beweis zugelassen, um Unterhaltsansprüche für ein Kind geltend zu machen. Ein DNA-Test ist auch zur Identifizierung und zur Feststellung der Identität von Terroranschlagsopfern ausreichend –ein Verfahren, das leider nach dem Anschlag auf die Twin Towers am 11. September 2001 oft angewandt werden musste.
Schwieriger wird es, wenn es um den Nachweis der jüdischen Identität geht. Der weltberühmte Rabbiner Osher Weis aus Jerusalem musste sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, als ihm Rabbi Jehoram Ulman, der Vorsitzende des rabbinischen Gerichtshofes in Sidney, eine Frage antrug, die er aus Schweden erhalten hatte.
Worum ging es? Ein schwedisches Mädchen hatte eine Beziehung zu einem jüdischen Jungen. Das Mädchen, Kasha, erzählte dem Rabbiner, dass in ihrer Familie schon immer geheimnisvolle Geschichten über jüdische Wurzeln kursierten. Demnach waren die Großmutter und Urgroßmutter mütterlicherseits jüdisch, konnten dies aufgrund des Zweiten Weltkrieges und der Vernichtung aller Dokumente jedoch nicht nachweisen. Auch die Nachbarn wussten angeblich davon, konnten dies aber, da sie nicht mehr lebten, vor dem Rabbiner nicht mehr bezeugen.
Raw Ulman wies Raw Weis auf eine Stellungnahme des weltberühmten Gelehrten Rabbi Moshe Feinstein aus New York hin. Moshe Feinstein ging davon aus, dass es drei Arten gibt, jüdische Identität nachzuweisen: Dokumente, jüdische Namen und »jüdisches Verhalten«.
Das schwedische Mädchen Kasha konnte keinen dieser Nachweise liefern, wollte aber trotzdem ihre Abstammung wissen. Rabbi Ulman, beeindruckt von der Geschichte, schlug vor, dass Kasha eine DNA-Analyse machen ließ, durch die ihre jüdische Abstammung bewiesen werden konnte.
Das Testergebnis zeigte, dass Kashas genetische Struktur einen »jüdischen« Haplotypen aufweist, der bei 54 von 1.500 getesteten Juden vorkam, aber nur bei sieben von 51.000 getesteten Nicht-Juden. Ein Haplotyp ist eine Kombination von Allelen (Genvarianten) in einem Chromosom. Wenn man weiß, zu welcher Haplogruppe die eigenen Chromosomen gehören, ist es möglich, die Ahnenlinie nachzuzeichnen und die geografische Herkunft zu verfolgen.
Es handelt sich um eine Schätzung und einer Interpretation von Daten.
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Rabbi Osher Weis startete daraufhin eine halachische Untersuchung. Raw Weis wiederum betonte, dass laut Halacha jedem in erster Instanz geglaubt werden soll, der als Unbekannter zur Schul, ins Rabbinat, in die jüdische Gemeinde oder zum Beit Din kommt und behauptet, jüdisch zu sein.
Rabbi Chaim von Wolozhyn (1749–1821) knüpfte daran allerdings die Bedingung, dass dies nur Gültigkeit hat, wenn der Kandidat sich »jüdisch verhält« und »jüdisch spricht«. Chazon Isch (Rabbi Avraham Jesaia Karelits, 1878–1953,) war mit dieser Aussage nicht einverstanden. Denn da die Juden aus vielen Himmelsrichtungen kamen, hielt er nicht an der Bedingung des »jüdischen Verhaltens und Sprechens« fest.
Chazon Isch geht vielmehr davon aus, dass der/die Kandidat/-in »jüdisch wirken« und eine »jüdische Ausstrahlung« haben sollte, sodass der Beit Din und andere Juden nach 30 Tagen zu der Überzeugung kommen, es mit einem Juden oder einer Jüdin zu tun zu haben. Rav Weis nahm diese Überlegungen auf und bestätigte, dass der Grundsatz »Jeder Person, die sich bei einer jüdischen Instanz vorstellt und behauptet, jüdisch zu sein, muss geglaubt werden« immer noch gilt.
Doch da Betrug nicht selten ist, gibt es eine Ermittlungspflicht. Deshalb wurden die Rabbiner dazu verpflichtet, auch die früheren Lebensumstände der betreffenden Personen zu ermitteln. Nichtdestotrotz bleibt die Grundregel der Glaubwürdigkeit angesichts der Behauptung einer jüdischen Herkunft weiterhin die Basis.
In unserem Fall des schwedischen Mädchens Kasha hilft uns dies aber nicht weiter, denn sie hatte nie behauptet, jüdisch zu sein. Da es sich nur um Gerüchte handelte, dass die Urgroßmutter und Großmutter womöglich jüdisch gewesen seien, reichten diese Angaben nicht aus, um die Frage der jüdischen Identität zu klären.
Rav Weis führte daher das Konzept der »Umdena«, der Einschätzung, ein. Manchmal brauchen wir zur Feststellung der Fakten keine zwei Zeugen, sondern es genügt eine andere Form der Glaubwürdigkeit. Indirekte Hinweise, die zweifelsfrei aus den Umständen abgeleitet werden können, werden dann als harte Fakten akzeptiert.
Die Tora stellt fest, dass wir uns »der Mehrheit anschließen« müssen – »acharej rabbim lehatot« (2. Buch Mose 23,2). Die Statistik, die den DNA-Ergebnissen zugrunde gelegt wird, basiert auf dem Mehrheitsprinzip. Dieses Mehrheitsprinzip wird in der Halacha sehr oft angewendet, um zu bestimmten Entscheidungen zu gelangen. Doch warum können wir bei der Entscheidung über Kashas Jüdischsein dieses Mehrheitsprinzip nicht heranziehen?
Rabbi Weis unterscheidet zwischen einem rein wissenschaftlichen Mehrheitsbegriff und dem jüdisch-halachischen Mehrheitsbegriff. Der rein wissenschaftliche Mehrheitsbegriff besagt, dass Kashas Haplotyp »jüdisch« genannt werden kann, weil ihr Haplotyp bei 54 von 1.500 Juden vorhanden war, dagegen nur bei sieben von 51.000 Nicht-Juden.
Rabbi Weis zeigt, dass der jüdische Mehrheitsbegriff weniger verallgemeinert, sondern viel konkreter, spezifischer und individualistischer wirkt. Als Beispiel dafür führt er eine Geschichte von zehn Findelkindern in einer Stadt an, deren Einwohner zu 60 Prozent nichtjüdisch und zu 40 Prozent jüdisch sind.
Nach der Logik der Wahrscheinlichkeitsrechnung müssten sechs von zehn Kindern nichtjüdisch und vier Kinder jüdisch sein. Für jedes Findelkind wird im Einzelnen beurteilt, ob es jüdisch oder nichtjüdisch ist, unter Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse bei den Einwohnern der Stadt, in der das Kind gefunden wurde.
Ist die Mehrheit der Einwohner jüdisch, dann ist das Findelkind jüdisch. Ist die Mehrheit der Einwohner nichtjüdisch, dann ist das Findelkind nichtjüdisch. Wenn zehn Findelkinder gefunden werden in einer Stadt, die mehrheitlich von Nicht-Juden bewohnt wird (40 Prozent sind Juden), dann wird für jedes Findelkind individuell entschieden, dass es nichtjüdisch ist. Im umgekehrten Fall (60 Prozent jüdisch und 40 Prozent nichtjüdisch) wären alle zehn Findelkinder jüdisch. Jedoch ist diese Gegebenheit mit Vorsicht zu geniessen, da eine definitive Bestätigung nur durch ein Beit Din gegeben werden kann.
Rabbi Weis macht daher deutlich, dass im Fall Kasha das Mädchen nach dem jüdischen Mehrheitsbegriff als nichtjüdisch angesehen wird. Als Begründung dafür wird die Gesamtmenge an jüdischen und nichtjüdischen Haplotypen herangezogen. Beim Judentum handelt es sich im Verhältnis zur Weltbevölkerung um eine äußerst kleine Anzahl von Menschen. Da weltweit mehr nichtjüdische Haplotypen als jüdische vorhanden sind, gibt es auf der Welt mehr nichtjüdische Kashas als jüdische. Deshalb, schlussfolgert Rav Weis, kann im Fall Kasha nicht an das Mehrheitsprinzip appelliert werden.
Rabbi Ze’ev Litka, ein Schüler von Rabbi Weis, argumentierte dagegen folgendermaßen: Kasha könnte von einer der vier jüdischen Erzmütter abstammen, die an der Wiege des europäischen Judentums standen. Doch auch wenn Kashas Erzmutter nichtjüdisch war, ist es immer noch möglich, dass ein weiblicher Nachkomme einer Erzmutter im Laufe der Geschichte jüdisch geworden sei. Dadurch könnte auch Kasha wiederum Jüdin sein.
Doch Rabbi Weis wies auch diese Argumentation zurück, weil sie zu ungewiss sei. Jedoch schloss er seine Tschuwa (Responsum) mit einer erfreulichen Bemerkung ab: Wenn DNA-Testergebnisse eines Tages als hundert Prozent schlüssig gelten, dann könnte man sie möglicherweise als Beweis für die jüdische Identität eines Menschen heranziehen.