Was kommt Ihnen als erstes in den Sinn, wenn Sie an Sommer denken?
Ich denke Sonne, Meer und Ferien sind die Assoziationen, welche den meisten Menschen einfallen würden, wobei dies sicherlich davon abhängt, wo man in der Regel seinen Urlaub verbringt. Schon allein der Gedanke an den Sommer bringt eine gewisse Entspannung mit sich und mancher wird sich sogar dabei ertappen, von seiner Fantasie an sein Traumziel versetzt zu werden.
Doch im Judentum ist dies nicht unbedingt der Fall.
Nicht, dass es im Judentum keine Ferien gibt, aber normalerweise findet vor dem Urlaub ein gewisses Ereignis bzw. eine Kette von Ereignissen statt, welche die Vorfreude an den Sommer trübt: Die “Drei Wochen der Trauer”
Auch fast 2000 Jahre nach der Zerstörung des 2.Tempels trauert das jüdische Volk noch immer und erinnert jedes Jahr daran, wie sehr uns der Tempel fehlt. Auch während des Jahres werden zahlreiche Bräuche praktiziert, welche uns an den zerstörten Tempel erinnern sollen:
Wer eine neue Wohnung baut, lässt ein kleines Stück der Wand (ca. 0,5m x 0,5m) als Andenken an den zerstörten Tempel unbearbeitet und bei jeder jüdischen Hochzeit zerbricht der Bräutigam vor der Trauung ein Glas als Zeichen der Trauer.
Aber es gibt drei Wochen im Jahr, an welchen die Trauer besonders intensiv ist, weil die Zerstörung des Tempels in dieser Zeitspanne passierte.
Diese schicksalshaften drei Wochen beginnen mit dem 17. Tammuz, einem Tag, welcher schon seit je von Unglücken heimgesucht wurde:
In der Mischna (Taanit Kap.4, Mischna 6) werden 5 Unglücke aufgezählt, beginnend mit dem Zerbrechen der Tafeln durch Mosche (siehe Schmot Kap.32), doch im Zusammenhang mit der Zerstörung des Tempels wurde an diesem Tag, nach monatelanger Belagerung, die Mauer von Jerusalem von der römischen Armee durchbrochen.
Nach der Meinung des Jerusalemer Talmuds (Taanit 4:5) wurde auch bei der Zerstörung des Ersten Tempels die Jerusalemer Mauer am 17.Tammuz durch die Babylonier durchbrochen und nicht am 10.Tevet, wie es im Buch des Propheten Jeremia (Kap.39,Vers 2) zu stehen scheint.
Doch der Babylonische Talmud (Taanit 28a) ist der Ansicht, dass es am 10.Tevet passierte und der 17.Tammuz ausgewählt wurde, weil die Zerstörung des 2.Tempels eine größere Tragödie für das jüdische Volk darstellte.
Nach dem Durchbruch der Mauer begann das römische Heer erbarmungslos zu plündern und zu morden, bis das Blut in Strömen floß. Dieses Gemetzel dauerte fast drei Wochen an und manchen Historikern zufolge kamen dabei mehr Juden um, als im Holocaust.
Nachdem die Römer die kostbaren Schätze, unter ihnen die goldene Menora (siebenarmiger Leuchter), aus dem Tempel entwendet hatten, zündeten sie ihn am Abend des 9. Av an und er brannte den ganzen 10.Av.
Wer das Gemetzel überlebt hatte wurde in Ketten nach Rom verschleppt, um als Sklaven verkauft zu werden. Dies war der Beginn des römischen Exils, in welchem wir uns noch immer befinden.
Die Ursache für die Zerstörung des Tempels und das anschließende Exil sind offensichtlich die Römer, welche den Tempel zerstörten und das jüdische Volk nach Rom vertrieben, aber wie immer im Judentum gibt es einen tieferen, spirituellen Grund, warum G´tt die Zerstörung seines Heiligtums und die Vertreibung seines Volkes zuließ oder eher gesagt in die Wege leitete.
Der Erste Tempel wurde aufgrund der drei “Kardinalsünden” Mord, Ehebruch und Götzendienst zerstört und der zweite Tempel wegen “Sinat Chinam” (Talmud Traktat Yoma 9b)
Das Exil nach der Zerstörung des Ersten Tempels dauert nur 70 Jahre, wobei das Exil nach der Zerstörung des Zweiten Tempels noch immer andauert (alle Verfolgungen, wie die grausamen Kreuzzüge, Inquisition, Pogrome sind auch Teil des römischen Exils). Daraus entnimmt der Talmud, dass sinnloser Hass schwerwiegender ist als die drei Kardinalsünden.
Doch wie kann sinnloser Hass schwerwiegender als die 3 Kardinalsünden sein, wenn das Verbot einen anderen Menschen zu hassen nur ein “einfaches” Verbot ist (siehe Vaikra 19:17) und man dafür zur Zeit des Sanhedrin (oberstes jüdisches Gericht) sogar keine “Makkot” (39 Schläge) bekam. Für die Kardinalsünden hingegen wurde man mit dem Tod bestraft und der Mensch ist verpflichtet sein Leben zu lassen, um sie nicht zu übertreten?
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Die Antwort ist, dass für ein Individuum natürlich die Kardinalsünden schwerwiegender sind und entsprechend bestraft werden, aber für eine Gesellschaft ist sinnloser Hass schlimmer und hat zerstörerische Auswirkungen.
Doch was ist “Sinnloser” Hass?
Seinen ersten Auftritt hat dieser sinnlose Hass in der Wüste, nachdem die Kundschafter von ihrer Reise zurückkehrten. Sie behaupteten, dass die Bewohner des Heiligen Landes zu mächtig sind und es ein Land sei, das seine Einwohner “auffresse”.
Nach dieser bitteren Nachricht weinte das gesamte Volk die ganze Nacht durch und behaupteten, dass G´tt sie hasst und vernichten möchte. Als Strafe muss das jüdische Volk weitere 40 Jahre durch die Wüste wandern, bis die gesamte Generation des Auszuges aus Ägypten mit wenigen Ausnahmen aussterben wird.
Wie konnte das jüdische Volk denken, dass sie von G´tt gehasst werden, wenn doch der Prophet Malachi (Kap.1, Vers 2) in G´ttes Namen verkündet: “Ich liebe euch , spricht G´tt!”
Der Midrasch Sifri (Sammlung von rabbinischen Schriften) antwortet, dass sie es waren, die eine Abneigung gegen G´tt hatten, aber sie nahmen diesen einseitigen Hass und projektierten ihn auf G´tt. Sie überzeugten sie sich davon, dass dieser Hass auf Gegenseitigkeit beruht und machten ein Skandal daraus. Sie gingen damit so weit, dass sie wirklich daran glaubten, dass G´tt sie aus Ägypten geführt hatte, um sie in der Wüste zu vernichten und das nach all den Wundern, welche G´tt für sie vollbracht hatte! Es war vollkommen sinnloser und unbegründeter Hass und daher sein Name: “Sinat Chinam” (Sinnloser Hass).
Die verhängnisvolle Nacht, in welcher das jüdische Volk geweint hat, war der 9. Av und G´tt versprach, dass dieses Datum in der Zukunft besonders für Katastrophen geeignet sein wird.
Auch die Zerstörung des Tempels kam infolge von grundlosen Hass zustande, wie es im Talmud (Gittin 59a) berichtet wird:
Ein angesehener Bewohner von Jerusalem wollte sich bei den jüdischen Gelehrten rächen, weil sie sich nicht für seine Ehre eingesetzt hatten. Er entschied sich, den römischen Kaiser davon zu überzeugen, dass das jüdische Volk einen Aufstand gegen ihn plant. Der Kaiser fragte, ob er einen Beweis für diese Behauptung hat.
Der gekränkte Mann riet dem römischen Kaiser ein Tier nach Jerusalem zu schicken, damit es als Opfer im Tempel im Namen des Kaiser gebracht wird. Falls sich das jüdische Volk weigern sollte, dann ist es ein klarer Beweis der Untreue gegenüber dem Kaiser.
Der Kaiser war damit einverstanden und schickte ein Tier nach Jerusalem. Während der Reise von Rom nach Jerusalem fügte der Mann dem Tier eine Verletzung hinzu, sodass es nicht mehr geeignet war, um als Opfer im Tempel dargebracht zu werden.
Im Tempel wurde das Tier überprüft und wie erwartet wegen der Verletzung abgelehnt. Für den Kaiser war die Behauptung des Mannes dadurch bewiesen und so kam es zur Zerstörung des Tempels und der Vertreibung des jüdischen Volkes ins Exil.
“Mida Kneged Mida” (Strafe entsprechend zur Sünde) wurde der Tempel infolge von grundlosem Hass zerstört, denn der Kaiser war davon überzeugt, dass ihn das jüdische Volk hasst und gegen ihn rebellieren möchte, obwohl dies in Wahrheit nicht der Fall war.
Sinnloser Hass ist im stande eine ganze Gesellschaft zu zerstören und die zwischenmenschlichen Beziehungen zu verderben. Wenn Menschen negativ übereinander denken und sich dementsprechend verhalten, dann kann kein friedliches Zusammenleben möglich sein. Wenn sich Menschen gegenseitig hassen, dann dauert es auch nicht lange, bis die die Grenzen der Moral verschwimmen und danach gibt es keinen Halt mehr.
Jetzt können wir verstehen, warum sinnloser Hass für eine Gesellschaft schlimmer ist, als die drei Kardinalsünden. Wenn ein Mensch einer der drei Kardinalsünden begeht, dann übertritt er ein Verbot aus der Tora und verletzt im körperlichen oder geistigen Sinne andere Menschen, jedoch ist der Schaden relativ klein und lokal. Sinnloser Hass hingegen untergräbt die Grundlagen einer Gesellschaft und bringt viele Menschen dazu, ihre moralischen Werte niederzulegen.
Obwohl die Zerstörung des Tempels fast 2000 Jahre zurückliegt, scheint es, dass der Grund für die Zerstörung noch immer gegenwärtig ist, denn so lehren unsere Weisen (Jerusalemer Talmud Yoma 1:1): “Jede Generation, in welcher der Tempel nicht erbaut wurde, gleicht der Generation in welcher der Tempel zerstört wurde”
Es scheint, dass es noch immer sinnlosen Hass zwischen uns Menschen gibt. Die Menschheit muss verstehen, dass wir alle Menschen sind und jedem von uns gebührt Respekt und Anerkennung. Wir müssen über die Unterschiede hinwegsehen und sinnlosen Hass aus der Welt vertilgen. Erst dann lässt sich erhoffen, dass wir den Fehler der Generationen beheben und würdig sind, den dritten und ewigen Tempel zu erhalten.
Quelle: Jüdische Rundschau Juli-Ausgabe 2020