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DAS GEWISSEN

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DAS GEWISSEN

Mit Awraham nimmt das Judentum seinen Einzug in die Weltgeschichte ein. Hitler nannte das Judentum das Gewissen der Welt. Das war Grund genug, um zu versuchen, das Judentum auszurotten.

Wenn wir über Gewissen sprechen, erinnere ich mich immer an die klassische Frage: “Wo war G’tt in Auschwitz? Mein angeheirateter Onkel, Oberrabbiner A. Schuster von Amsterdam, sel. A. stellte immer wieder die Frage: “Wo war der Mensch in Auschwitz?“ Die zentrale Rolle des Gewissens wird hier in einem Kernsatz dargestellt. Religion ist die ultimative Form der Ungewissheit. G’tt ist die einzige wirkliche Realität, während wir in „G’ttes Armee” nur Schachfiguren sind. Leider hat es in der Geschichte sehr viel Missbrauch der Religion gegeben. Dennoch ist die Tora als moralischer Kompass unverzichtbar. Was versteht die jüdische Tradition unter Gewissen? Eine säkulare Definition des Gewissens lautet: “Gewissen ist die Fähigkeit, vor oder nach einer Handlung aus der Perspektive von Gut und Böse zu beurteilen“ . Unterscheidet sich das vom jüdischen Standpunkt aus? Wie verhält sich das jüdische Gewissen zum Gesetz? Gibt es ein Spannungsfeld zwischen Vorschrift und Gewissen oder liegen sie auf einer Linie? Wenn die Tora richtungsweisend und bestimmend ist, welche Bedeutung hat dann unser Gewissen? Spielen die guten und bösen Neigungen noch eine Rolle? Ist die Frage nach der freien Wahl in diesem Zusammenhang relevant?

Vorbild

Ein typisches moralisches Problem ist die Balance zwischen Frieden und Gewalt. Frieden steht in der jüdischen Wertehierarchie an hoher Stelle, aber unter Umständen ist Gewalt eine Tugend. Das ergibt ein verwirrendes Bild. Trotz der großen Betonung des Friedens heisst es in alten jüdischen Schriften in eindeutiger Sprache: “Wenn jemand dich töten will, zeige ihm Furcht und töte ihn zuerst“ (Tractat Sanhedrin)

Die Tora lehrt uns, nur die Grausamkeit und das schlechte Betragen zu hassen, aber nicht die Person selbst. Unsere Feinde sind auch Menschen. Die Tora lernt zu vergeben und zu vergessen. Die Religion duldet keine dauerhaften Hassgefühle, aber das Recht auf Selbstverteidigung bleibt davon unberührt. Es gibt in der Tora auch die Pflicht, Leben oder Besitz von Dritten zu retten, was uns direkt mit den Gewissenskonflikten vieler Friedenstruppen in Krisengebieten konfrontiert.

Gegensätzliche Anweisungen

Ein Soldat befindet sich manchmal in einer Zwickmühle, vor allem, wenn er Mitglied einer Friedenstruppe ist, wie im ehemaligen Jugoslawien. Das Gebot (Levitikus 19:16): Stehe nicht (still) bei dem Blute deines Nächsten“ wird als Pflicht zu Handeln angesehen. Wenn eine Person in Lebensgefahr ist, muss alles getan werden, um sie zu retten, auch wenn dies bedeutet, dass sein Angreifer getötet werden muss. Wenn man die Möglichkeit hat, jemanden zu retten und es versäumt, dies zu tun, wird diese Unterlassung mit Blutvergießen gleichgesetzt.

Wenn die Anweisungen eines Soldaten aus der Friedenstruppe nun “Halt dich fern” sind und die Tora in einem bestimmten Fall lebensrettende Maßnahmen vorschreiben würde, dann muss das Wort G’ttes vorherrschen. Die einzige Ausnahme kann im übergreifenden Interesse der Glaubwürdigkeit und Neutralität der Friedenstruppen liegen. Würden sie die schwächste Partei in jedem Konflikt unterstützen, würde ihre Rolle und Funktion langfristig bald untergraben. Dies ist die einzige Rechtfertigung für das oft passive Vorgehen der Friedenstruppen.

Das Gewissen aus jüdischer Perspektive

Die meisten Menschen erfahren das Gewissen als innere Stimme. Diese innere Stimme bewertet alles, was wir tun, und gibt unserem Handeln eine Richtung vor. Aber was ist der Ursprung dieser inneren Stimme? Vor langer Zeit wurde angenommen, dass diese innere Stimme angeboren ist. Aber auch eine andere Sichtweise ist möglich. Ein gutes Vorbild, Überzeugung, Kontrolle und Bestrafung sind äußere Einflüsse, die uns motivieren, gutes Verhalten zu erzeugen. Das Gewissen ist die Stimme des Guten im menschlichen Geist, die durch einen Lernprozess verinnerlicht wird. Im Volksglauben wird das Gewissen als Engel beschrieben, der auf unserer Schulter sitzt und ab und zu ins Ohr flüstert.

Wichtiges Instrument

Das Gewissen ist ein wichtiges Instrument in der Erziehung, weil es negative Reize und zornige Neigungen kontrolliert und eindämmt. Andere beschreiben das Gewissen als ethischen Standard für eine praktisches Handeln. Diese ethische Norm kann anerzogen oder angeboren sein. Das Judentum sieht das Gewissen als einen inneren Kompass, der von G’ tt gegeben wird. Es ist eine sanfte Stimme, die es zu pflegen und zu stärken gilt. Man geht schnell davon aus, dass jeder weiß, was gut und böse ist, und dass es eine natürliche Moral im Menschen gibt. Philosophen haben großen Wert auf den historischen und kulturellen Kontext des Gewissens gelegt. Moderne Bewegungen stehen dem Gewissen eher skeptisch gegenüber. Ein Appell an das Gewissen wird oft als opportunistisch oder zu subjektiv empfunden.

Relative Begriffe

Das Judentum basiert auf der Annahme, dass Gut und Böse relative Begriffe sind, und nur konträr zueinander funktionieren. Nur durch den bösen Gegenpart erhält das Gute klare Konturen. Rabbi Nachman, der Sohn von Rabbi Chisda (4. Jh.), fragt sich, warum der Ausdruck ‘und G’tt schuf (Genesis, 2,7) im Original zweimal den Buchstaben Jod enthält, während einer genügt hätte. Die Antwort ist, dass G’tt zwei Neigungen in den Menschen gepflanzt hat, die gute, himmlische Neigung und die irdische, materielle Neigung (B. T. Berachot 61a). Die guten und bösen Neigungen werden als ein innerliches Spannungsfeld innerhalb der menschlichen Persönlichkeit beschrieben. Sie wird gewöhnlich durch die Spannung zwischen dem, was der Mensch will und dem, was er sich selbst erlaubt, gebildet. Tatsächlich gibt es einen ständigen inneren Kampf zwischen Gut und Böse, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Der talmudische Begriff des Gewissens ist ein dynamisches und kein statisches Konzept.

Tehilim – Tagebuch des inneren Kampfes

Rabbi Chaim Luzzatto (1707-1746) stellt in seinem Mesillat Yescharim fest, dass“ G’tt jeden Menschen in eine Art Kriegszustand versetzt, weil alles in dieser Welt, Gut und Böse, eine Prüfung für den Menschen darstellt. Reichtum, Armut, Gedeih und Pein bestimmen die Konturen des Schlachtfeldes. Wenn er weiß, wie man mit allen Situationen richtig umgeht, wird er zu einem Adam Schalem, einem perfekten Menschen.“

Rabbi Bachja ibn Pakuda erzählt in seinem Chowot ha-Lewawot („Pflichten der Herzen“) die Geschichte eines Mannes, der Soldaten auf dem Rückweg vom Schlachtfeld begrüßt. Er sagte ihnen, dass sie „von einem kleinen Scharmützel in den Großen Krieg zurückgekehrt seien: der ewige Kampf des Menschen gegen seine niederen Triebe, menschliche Schwächen und unmoralische Neigungen”. Es ist diese Schlacht, die König David in seinen Psalmen besingt.

Säkulare Ansichten

Die Kunst des Menschseins besteht nicht darin, den Trieb als Ganzes zu unterdrücken, sondern auch darin, ihn nicht unbegrenzt auszueleben. Kinder müssen lernen, ihre Triebe zu beherrschen. Leidenschaften müssen sozialverträglich formuliert werden. Die Umwandlung der Energie des Triebes in höhere spirituelle Ebenen wird Sublimierung genannt. Das Unbewusste formt das unersättliche Lustprinzip. Das Gewissen – Über-Ich – erinnert uns an moralische Prinzipien, die gewöhnlich von Eltern und Lehrern stammen, während das Ego zwischen den Wünschen des Unterbewusstseins und den Grenzen der Zulässigkeit vermittelt, die das Gewissen bestimmen. Freud sah das Gewissen vor allem als sublimierte Lustenergie. Der Grundstoff des Gewissens ist also nicht ganz rein. Der Makel heftet immer daran. Das Ego ist die Instanz, die auf der Grundlage einer Kosten-Nutzen-Analyse die kurzfristige Lustbefriedigung gegen langfristige moralische Grundsätze abwiegt.

Zwei Ebenen

Eine typische jüdische Perspektive ist die Schichtung des Gewissens. Freuds Über-Ich ist einzigartig. Das Judentum hat zwei Ebenen des Gewissens. Einer ist sowohl angeboren als auch anerzogen, und einer ist ein Geschenk des Himmels. Der Talmud scheint davon auszugehen, dass das Gewissen – die gute Neigung – mehr ist als nur ein Ausdruck verinnerlichter gesellschaftlicher Normen. Die G’ttliche Natur des Menschen ist mehr als ein Symptom der sozialen und kulturellen Einbettung des Individuums in die Gesellschaft. Das Gewissen im Judentum ist sicherlich keine Begleiterscheinung, die keine wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdient. Es ist vielleicht die einzige Quelle wahrer Werte und Normen im menschlichen Leben: die Wahl des Guten. Diese gute Neigung, die um den Beginn der Pubertät herum voll ausreift, wird als ein Stück des G’ttlichen in der Welt gesehen. Als solche besitzt sie daher eine enorme moralische Kraft und verdient große Unterstützung. Dies schließt jedoch nicht aus, dass sie subjektiv ist und deaktiviert werden kann.

Aktivierung des latenten Bewusstseins

Jeder weiß, dass das Gewissen in vielen zwischenmenschlichen Situationen eine wichtige Rolle spielt. Im gesellschaftlichen Leben und in vielen politischen Debatten wird an das Gewissen appelliert, ob es nun um Umwelt, Doping im Sport, Medieneinfluss, Medizin, Handelspraktiken, Biotechnologie oder Politik geht. Das Böse im Menschen hat eine enorme emotionale Wirkung. Deshalb lebt das Gute in einer Art dialektischer Spannung mit dem Bösen und ist stark emotional gefärbt. Das Judentum sagt, dass im Sozialisationsprozess eine niedrigere Form des Gewissens anerzogen wird, dass es aber in eine höhere Form des Bewusstseins eingebettet werden kann, die der Mensch von Oben erhalten hat. Die Aufgabe der Menschheit ist es, dieses latente Bewusstsein zu aktivieren und zu verstärken. Insofern ähnelt es in gewisser Weise dem Wissen. Der Mensch hat mit der Geburt eine Reihe von logischen Strukturen geerbt – der Mensch ist also keine Tabula Rasa. Diese Strukturen müssen nur in der realen Welt aktiviert, kultiviert und realisiert werden. Das menschliche Ideal wird erreicht, wenn das angeborene und erlernte Gewissen parallel zur Himmlischen Reflexion des Gewissens verläuft.

Wer ist der natürliche Verbündete des Menschen?

Antoninus, der römische Kaiser, fragte einst Rabbi Jehuda ha-Nasi: “Ab welchem Augenblick herrscht die schlechte Neigung über den Menschen? Vom Moment der Entstehung des Menschen im Bauch oder ab dem Moment, an dem er geboren wird?“ Rabbi Jehuda antwortete, dass die schlechte Neigung bereits ab dem Moment, in dem der Fötus eine menschliche Gestalt in der Gebärmutter annimmt, vorhanden ist. Antoninus widersprach ihm: “Wenn dem so ist, würde er seiner Mutter einen Tritt geben und seinen Bauch verlassen. Es muss gesagt werden, dass die böse Neigung im Menschen von dem Moment an auftritt, in dem er geboren wird.“ Rabbi Jehuda gab Antonius Recht und sagte, dass es tatsächlich Beweise dafür in folgender Passuk (Genesis 4:7) gibt “vor der Türe die Sünde” (B.T. Sanhedrin 91b). Die böse Neigung ist im Menschen von Anfang an vorhanden, kann aber kultiviert oder bekämpft werden. Zum Beispiel nennt Rava (B.T. Sukka 52b) die böse Tendenz in erster Linie einen Passanten. Wenn man ihr viel Aufmerksamkeit schenkt, wird die böse Neigung zum Gast und bestimmt letztendlich das Leben des Menschen. Gewöhnt man sich an das Fehlverhalten führt es zur Sucht. Rav Asi sagte: „der böse Trieb gleicht anfangs dem Faden des Spinngewebes, zuletzt aber gleicht er Wagenseilen (vgl. Jeremia 11:17; B.T. Sukka 52b).

Sucht

Dieses fast unzerbrechliche Band des Menschen mit seiner bösen Neigung ähnelt der Sucht nach dem Bösen. Diese Sucht ist am Ende tragisch: “Die böse Neigung scheint am Anfang süß, ist aber letztlich bitter” (J.T. Schabbat 14:3). Man kann die irdische Neigung anziehen und abstoßen. Wenn man sich ihr öffnet, ist es schnell um das Gewissen der Menschheit getan. Rabbi Simeon ben Lakisch sagte, dass der Satan (Widersacher) `identisch zur irdischen Neigung und identisch mit dem Todesengel ist’ (B. T. Bava Batra 16a). Die irdische Neigung verführt den Menschen zur moralischen Ungerechtigkeit, woraufhin er im Himmel angeklagt wird, um schließlich als Todesengel herab gesandt zu werden. In jedem Fall führt eine zu starke Bindung an das Irdische zu (geistiger) Zerstörung. Gut und Böse kämpfen ständig miteinander im Innersten des Menschen. Das Gute ohne das Böse und das Böse ohne das Gute gibt es in dieser Welt nicht.

Verborgener Kampf

Im Hebräischen wird das Gewissen als “Matzpun” bezeichnet, was soviel bedeutet wie “das Verborgene”. Unterhalb der Hautoberfläche findet ein ständiger Kampf zwischen Gut und Böse statt, oft ohne dass sich der Mensch dessen bewusst ist. Aus der Spannung zwischen Gut und Böse entspringen skrupellose Ideen. Das Gewissen im Judentum ist also nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Dialektik zwischen Gut und Böse, die unterschwellig und oft unbemerkt ständig präsent ist und gelegentlich ins Bewusstsein übergeht. Vom Alter der Bat- oder Bar-Mitzwa (12-13 Jahre) bis zum Tod hat diese innere psychologische Spannung Höhen und Tiefen; es bestimmt den moralischen Gehalt des Menschen. Dem Talmud zufolge sind fast alle Lebensdaten des Menschen bereits vor seiner Geburt gespeichert. Die einzige Sache, welche wirklich frei bleibt, ist die Wahl zwischen Gut und Böse. Das Gewissen ist daher der zentrale Punkt der Aufmerksamkeit in jedem menschlichen Leben. „Wie viel Gutes könnte ich in meinem Leben erreichen und wie viel Schlechtes könne ich in etwas Positives sublimieren“, ist die zentrale Lebensfrage für jeden Einzelnen.

Innere Spannung

Die böse Neigung ist auch bösartig gegen das Gute im Menschen selbst. Rabbi Jehoschua ben Levi sagt, dass es normalerweise der Fall ist, dass jemand, der zwei oder drei Jahre lang mit einem anderen Menschen in einer Umgebung zusammenlebt, freundschaftliche Kontakte zu ihm geknüpft hat. Aber die schlechte Neigung wächst mit dem Menschen bis zu seinem Alter mit und trotzdem bleibt dieser Thanatos (Todestrieb) auch im fortgeschrittenen Alter noch aktiv. Selbst an seinem hundertsten Geburtstag wird die böse Neigung versuchen, den Menschen zu verderben. Indem man ständig der irdischen Neigung nachgibt, stärkt man seinen Einfluss durch Gewohnheit. Nach dem Talmud ist es möglich, die irdische Verdorbenheit im Menschen zu unterdrücken. Obwohl Rabbi Jitzchak behauptet, dass der bösen Neigung jeden Tag neue Impulse gegeben werden und es jeden Tag versucht, den Menschen zu (selbst)zerstörerischen Übertretungen zu bringen, ist dies genau die Herausforderung im Leben auf dieser irdischen Welt: das Bezwingen und die Sublimierung der irdischen Neigung.

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Kombination von Gut und Böse

Der Mensch ist eine einzigartige Kombination von Gut und Böse. Wenn wir – trotz aller Widerstände – uns für das Gute entscheiden, wird es in Form von Nähe und Annäherung an des G’ttliche belohnt. Eine Seele im Himmel hat keine Versuchungen und muss nicht für das Gute kämpfen. Hier auf Erden ist der Mensch ständig Versuchungen und Situationen ausgesetzt, sein Niveau zu senken und sich selbst zu erniedrigen. Avot von Rabbi Natan (Kapitel 16) sagt, dass die böse Neigung dreizehn Jahre älter ist als die gute Neigung. Allmählich entwickelt sich eine Gewissensfunktion, und ab dem Alter der jüdischen Volljährigkeit (dreizehn Jahre für einen Jungen und zwölf Jahre für ein Mädchen) versucht man, den irdischen Impulsen zu widerstehen, die der Mensch von seiner Kindheit an zu folgen gewohnt ist.

Alter König

Unsere Weisen zeigen ein interessantes Detail auf: wer sich auf dem Weg zu einer Avera (Sünde) befindet, begeht es voll mit der ganzen ‘Neschama’:Aber wenn man auf dem Weg zu einer Mitzwa ist, werden alle Gliedmaßen träge. Die irdische Neigung ist nun einmal König über unsere 248 Gliedmaßen, während die gute Neigung sozusagen in einer Art spirituellem Korsett gefangen ist. Die schlechte Neigung hat die Oberhand, und die kleine innere Stimme des Gewissens wirkt schwach und ohnmächtig. Das sagt auch Rabbi Ammi bar Abba über den Vers (Prediger 9:15): „Eine kleine Stadt, und der Leute wenig darin“. Die kleine Stadt ist der menschliche Körper. Die „wenigen Leute“ beziehen sich auf die Gliedmaßen. „und da kam gegen sie ein großer König, und umringte sie”, das ist die böse Neigung. „und baute um sie große Bollwerke“, das bezieht sich auf die Averot der Menschheit (seine Sünden). „Und in dieser Stadt war ein kluger Bettler, und dieser rettete die Stadt durch seine Weisheit“, das bezieht sich auf die gute Neigung, die voll Weisheit ist und zu Teschuwa (Umkehr), welches guten Taten anregt (B.T. Nedarim 32b).

Die Kraft des Guten

Der Talmud untersucht auch die verschiedenen Möglichkeiten, wie der Einfluss der guten Neigung und des guten Gewissens gestärkt werden können. Rabbi Levi bar Chama sagt im Namen Simeon ben Lakisch, dass man der guten Neigung mehr Energie gibt, indem man sich über den moralischen Verfall ärgert. Wenn das nicht hilft, muss der Mensch sich mit der Tora auseinandersetzen. Die Beschäftigung mit G’ttes Tora schwächt die böse Neigung. Wenn der böse Trieb überwunden ist, wird das Ziel erreicht. Aber wenn dies nicht gelingt, sagt man das Schma – die Erklärung der Einheit des Allmächtigen. Wenn auch die Kraft des Schma keine Wirkung hat, wird das Memento mori verwendet: sei dir der Sterblichkeit bewusst, denn das bringt in der Regel eine Beruhigung der irdischen Neigung mit sich. Intellektuelle Anstrengung, wie das Studium der Tora, kühlt die warme Leidenschaft der niederen Trieben im Menschen ab.

Lebenselixier

Das Tora-Lernen wird als Heilmittel gegen die Neigung zum Bösen gesehen und stärkt die positiven Kraft des Gewissens. Die Tora wird oft mit Feuer und die böse Neigung mit Metall verglichen. Wenn Metall in Brand gesetzt wird, können alle Formen und Gegenstände daraus hergestellt werden. Auch kann die böse Neigung durch die Lehre der Tora, die mit dem Feuer verglichen wird, geformt und sublimiert werden (Avot von Rabbi Natan 16). Der einzige wirkliche „Kraftprotz“ im Judentum ist derjenige, der seine irdische Neigung beherrscht (Pirke Avot 4). Intellektuelle Anstrengung für die Tora löscht das Feuer der Leidenschaft. Die Tora gibt auch klare Richtlinien vor, wo die Kompass-Funktion des Gewissens oft versagt.

Kraftquelle

Doch der böse Trieb hat auch eine gewaltige Kraft. Rab Samuel bar Nachman (4. Jh.) sagte: „Der Ausspruch: “Und siehe, es war gut“ bei der Schöpfung bezieht sich auf die gute Neigung, aber der Ausdruck: “Siehe, es war sehr gut„ (Genesis, 1:31), das ist die böse Neigung”. Ist die böse Neigung wirklich gut? In mancher Hinsicht, ja! Ohne materielle `Triebe’ würden die Menschen kein Haus bauen, heiraten, keine Kinder bekommen und keinen Handel treiben. Denn die Welt ‘basiert auf Eifersucht, Begierde und Ehrgeiz’. Wenn man die irdische Neigung in etwas Positives verwandeln kann, erhält man eine enorme Kraftquelle. Wenn die irdische Neigung sein “Kraftwerk” in den Dienst des Guten des Menschen stellt, entsteht eine Metamorphose: ein neuer – und besserer – Mensch. Das sind meist begabte Menschen, Zaddikim, die nichts Schlechtes auf der Welt sehen oder bringen können.

Die irdische Neigung verschlechtert sich

Die messianische Zukunftsperspektive ist für den bösen Trieb keine positive. Rabbi Jehuda, der Sohn des Rabbiners Ilai (4. Jahrhundert), sagte, dass G’tt in der Zukunft die böse Neigung für die Heiligen und für die bösen Menschen schlachten wird. Für die Heiligen schien die böse Neigung immer ein unüberwindbarer `hoher Berg’ zu sein und für böse Menschen wie ein Haar im Wind. Beide Parteien werden bei der endgültigen Abrechnung mit der bösen Neigung weinen. Die Zaddikim werden sagen: “Wie können wir diese schwierige Hürde nehmen und diesen hohen Berg bezwingen? Die Gottlosen werden weinen und sagen: “Wie könnten wir dieses kleine Haar nicht unterdrücken? Heutzutage wird das Gewissen als kritische innere Stimme wahrgenommen. Es erinnert uns an unsere Fehler. Oft ist der G’ttliche Auftrag oder die Lehre der Tora – leider – nicht mehr die Richtlinie.

Subjektiv und emotional

Die Norm ist heutzutage subjektiv und emotional. Gewissen ist heute viel mehr eine Emotion als eine intellektuelle Herausforderung. Ist die Stimme des Gewissens eine Reflexion unseres tiefsten Inneren, oder ist sie eine Stimme, die uns an äußere Richtlinien erinnert, an einen G’ttlichen Auftrag, an unsere Erziehung oder an die Natur? Wenn das Gewissen zu einer Emotion degradiert wurde, ist das zugleich ein Totschlagargument in der Diskussion. Wir können nicht weiter darüber reden, denn das Gefühl ist nun einmal das letzte Maß der Dinge, an dem alles gemessen wird. Die gute Neigung im Judentum ist vielleicht das Gewissen. Es ist das Fünkchen G’ttlichkeit im Menschen, das ihm seinen einzigartigen Charakter verleiht und ihn über das Tier erhebt, das besonders seinem Instinkt zu folgen scheint. Das G’ttliche im Menschen muss in der Interaktion in konkreten Situationen entwickelt und gefärbt werden. Dies geschieht hauptsächlich durch das Studium und die Verinnerlichung der Tora.

Gegensatz

Die gute Neigung ist in allem das Gegenteil der bösen Neigung.Sie hat eine viel weichere Klangfarbe, hat aber dennoch einen großen Einfluss auf die Ausrichtung des menschlichen Handelns. Letztendlich geht es in diesem Leben um die Wahl zwischen Gut und Böse. Diese Welt ist die Arena, in der unsere Standhaftigkeit in dieser Wahl getestet wird. Warum wird der Mensch als ein Fass voller Widersprüche erschaffen, zwischen Gut und Böse hin und her geworfen?

Theologie von der Bindung an den Körper

Der Unterschied zwischen dem Physischen und dem Geistigen ist seit Menschengedenken ein Problem. Schon in der Antike war diese Unterscheidung das zentrale Thema philosophischer Spekulation. Die Menschheit ist auch gegenwärtig noch am Leben. Mittlerweile steht in jedem Fall ein Aspekt der Diskrepanz außer Frage: In der materiellen Realität existiert das Konzept von Raum und Ort. In einer spirituellen Welt sind Raum und Ort undenkbar. Im Verstand existiert nur der konzeptuelle Raum. Begriffe, die in mancherlei Hinsicht vergleichbar sind, werden als nahe beieinander bezeichnet, während sich gegenseitig ausschließende Begriffe “voneinander entfernt sind“. In der physischen Welt ist es möglich, zwei Stoffe miteinander zu verschmelzen; in einer geistigen Welt ist dies unmöglich.

Angelologie

Ein gutes Beispiel für diesen Unterschied ist die Engelslehre. Bereschit Rabba 50:2 sagt uns, dass ein einzelner Engel nicht zwei Aufgaben erfüllen kann. Außerdem können zwei Engel nicht die selbe Mission teilen. Im Bereich des Geistes gibt es keinen Raum, der verschiedene Aspekte eines Engels vereinen könnte. Wenn ein Engel zwei Aufgaben hätte, würde er sich per Definition in zwei Wesen aufteilen. Wenn zwei Engel die selbe Aufgabe hätten, müssten sie zu einem Wesen verschmelzen, weil es keinen physischen Raum gibt, der sie trennen könnte. Eine materielle Welt ist notwendig, um verschiedene – und sogar widersprüchliche – Dinge und Konzepte zu vereinen.

Fass voller Widersprüche

Spirituelle Einheiten können an physische Objekte gebunden werden, so wie eine menschliche Seele sich an einen physischen Körper binden kann. Widersprüchliche Konzepte können nur über ein irdisches Objekt zusammengeführt werden. Das klassische Beispiel für diese Einheit in der Vielfalt stellt der Mensch selbst dar. Aus rein spiritueller Sicht sind Gut und Böse unvereinbare Gegensätze, die nie zueinander finden werden. Mit Engeln, geistigen Wesen, ist eine Koexistenz von Moral und Unmoral undenkbar. Nur in einem physischen Körper können Gut und Böse nebeneinander existieren.

G’tt schuf viele verschiedene spirituelle Konzepte, spirituelle Kräfte, Gesetze, Einheiten und Prinzipien, mit denen das Universum erschaffen und gelenkt wurde. Diese Kräfte und Prinzipien bilden oft Gegensätze und Widersprüche wie Gut und Böse, das strikte Recht gegenüber Barmherzigkeit, Passivität und Aktivität, Form und Masse, Grundbegriffe wie “Geben” vs. “Nehmen” und “Männlichkeit vs. Weiblichkeit“.

Energiekonfiguration

Die Geschöpfe aus der unendlichen Engelschar bilden die geistigen Elemente, die durch Interaktion die Prozesse auslösen, die für die Entwicklung und Kontrolle des Universums notwendig sind. Ein Engel ist eine Konfiguration aus Energie mit einem speziellen Auftrag. Manchmal erscheinen uns diese ‘Gesandten’ in Form von Naturgewalten. In anderen Fällen sind Engel direkte Gesandte, deren Göttlichkeit unmittelbar erkennbar ist.

Jeder einzelne Engel bildet eine eigenen Auftrag. Engel führen oft unterschiedliche Aufträge aus, manchmal auch das Gegenteil davon. Es gibt kaum Möglichkeiten für eine harmonische Zusammenarbeit im Bereich des Geistes. Der einzige Weg, auf dem verschiedene spirituelle Unvereinbarkeiten zusammenkommen können, ist die Bindung an einen gemeinsamen physischen Punkt. Das ist die Definition eines Menschen: ein Fass voller Widersprüche. Er kämpft den ewigen Kampf zwischen seinem inneren Guten und Bösen.

Das Gewissen bündelt alle guten Dinge

Die jüdische Definition des Gewissens ist das G’ttliche im Menschen, seine Neschama – geistige Seele. Im Gehirn gibt es zweifellos irgendwo ein “Gewissenseinszentrum”, in dem all diese geistige Energie in Kontakt mit dem Körper und durch unseren Körper mit der irdischen Realität gebracht wird. Der Inhalt des Gewissens ist Güte, Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit. Das G’ttliche im Menschen ist keine Erweiterung unserer persönlichen Ideale. Das G’ttliche im Menschen ist auch nicht “Geborgenheit”. Unser Gewissen, das g’ttliche Element, ist der beste Gegner in unserem Leben. Das Leben hat nicht nur positive, sondern auch negative Aspekte. Es gibt nicht nur Rosenduft und Mondschein oder andere romantische Ideale. Religiöse Liebe ist Bindung an das G’ttliche in der Welt. Diese Wahl macht uns in den Augen unserer (weltlichen) Mitmenschen nicht immer sympathisch. Das Gewissen braucht einen Gegner, um unserem Leben Tiefe und Sinn zu geben. Deshalb wird im Talmud der bösen Neigung der Menschheit so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Indem wir genau wissen, wie wir auf das Böse in uns reagieren können, können wir spirituell wachsen. Durch Vertreibung oder Sublimierung des Bösen wird der Mensch automatisch mit Gutem `gefüllt und genährt’.

Höhere Wahrheit

Seit den Werken des Philosophen Immanuel Kant wissen wir, dass wir Aussagen über das G’ttliche im Menschen als gewöhnliche Wahrheiten nicht kontrollieren, überprüfen oder verfälschen können. Das

G’ttliche übersteigt wissenschaftliche Beobachtung. Das G’ttliche im Menschen verlangt, daß er seinen Verstand, Herz und Seele in höchstem Maße für positive Zwecke einsetzt. Auch der intellektuelle Aspekt im Gewissen ist extrem stark. Wir müssen es wagen, dieses erhabene Denken in der täglichen Praxis anzuwenden. Dann wird die Welt bald besser aussehen.

Aber am Ende ist der menschliche Verstand zu begrenzt und zu instabil, um ein unfehlbares, klares moralisches Urteil zwischen Gut und Böse zu bilden. Das ist die Funktion der Tora: ewige Werte und Normen zu setzen. Sogar mit diesen himmlischen Richtlinien und Anweisungen der Tora sind die Entscheidungen schwierig genug…

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