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DIE PSYCHOLOGIE DER TRAUERVERARBEITUNG

Ich habe meine jüngste Schwester Naomi (57) vor zwei Monaten verloren und möchte mit Euch die Jüdische Sichtweise beim Vorgang des Trauerns teilen. Mein Professor der Psychologie (VU Amsterdam) fand die jüdische Art der Trauerverarbeitung oder Trauerbewältigung die Beste, die er jemals gesehen hatte. (Zur Klarstellung: nachstehend habe ich alles „männlich“ gehalten, aber das trifft genau so auf „weiblich“ zu).

 

Standarisierung von Riten

Während der Trauerzeit nach der Beisetzung gelten besonders viele Verhaltensvorschriften. Die Beziehung zwischen dem individuellen Verarbeitungsvorgang und den eingefahrenen Gewohnheiten ist komplex. Es kann sein, dass die Riten und Symbole Hilfsmittel für diejenigen sind, die nicht von sich heraus oder nicht vollständig mit der Verarbeitung bereits angefangen hatten.

Gleichzeitig wird der Trauervorgang auf diese Weise kanalisiert, so dass weniger soziale Spannung entsteht.

 

Ein Katalysator

Die vorgegebenen Trauerriten erzeugen bei Nahestehenden alle diese Gefühle, die bei Trauer eigentlich spontan entstehen müssten. Es sieht so aus, als ob ein aktiver Trauervorgang fest gelegt wurde. Die Vorgaben blindlings zu befolgen ist natürlich nicht der Sinn der Sache. Und doch entdecken wir eine Standarisierung der Riten; es sind die Vorgaben, von denen erwartet wird, dass sie jeder beachtet.

 

Standarisierung

Diese Standarisierung bietet Trauernden einen Leitfaden; „der Versuch, die persönlichen Emotionen und bekannte rituelle Elemente, die Nachtwachen, Trauervorgänge und Beerdigungen beinhalten, mit einander zu verbinden, ist für Trauernde Bestandteil des Genesungsweges während des akuten Schmerzes“. „Rituale sind in erster Linie Katalysatoren der Trauer, da sie das Zeigen von Gefühlen erlauben“, was, um die Trauer zu erfüllen, sie aus zu leben, als besonders wichtig betrachtet wird.

Hierdurch ist es möglich, dem Trauern auch einen Zeitrahmen zu setzen. Nach dem zeitlich begrenzten Rückzug zur Besinnung VOR der Beisetzung, erhält der Trauernde jetzt immer mehr persönliche, soziale und religiöse Aufgaben übertragen, sodass er, gegen Ende des Trauerjahres, in der Gemeinschaft wieder voll integriert sein und seinen Verlust verinnerlicht haben wird.

 

Der Faktor Zeit

Die Wichtigkeit dieses Zeitraumes der „Schiwwe“ kann nicht genug betont werden. Die sieben Tage der Trauer (meistens Schiwwe genannt, die Hebräische Gleichbedeutung von sieben), sind vollständig dem Trauern gewidmet; im Grunde genommen ist keine einzige andere Tätigkeit erlaubt. Alle Aktivitäten müssen eingestellt werden.

Auf diese Art und Weise wird man im Stande sein, jede Minute voll zu nutzen. Deshalb sollte man, um den Trauervorgang ab zu runden, nicht länger als EIN Jahr benötigen, obwohl Meinungen in sekularen Kreisen einen viel längeren Zeitraum vertreten.

 

Das Jahrzeitlicht

Während des Schiwwe-Sitzens bezw. der Schiwwa-Zeit wird ein Jahrzeitlicht entzündet, das die Seele des Verstorbenen symbolisiert. Mystiker verweisen darauf hin, dass die Seele des Verstorbenen, die während der Schiwwa noch mit der Erde Kontakt hat, sich an diesem Seelen-Licht erfreut. Im Grunde genommen sollte die Jahrzeitlampe am Ort des Versterbens angezündet werden. Erfolgte das Dahinscheiden im Krankenhaus, zündet man das Jahrzeitlicht im Haus des Verstorbenen an. Ist auch das nicht möglich, dann wird das Jahrzeitlicht im Haus oder in der Wohnung angezündet, wo Schiwwe gesessen wird.

Bevorzugt wird das Jahrzeitlicht mit Olivenöl angezündet. Eine Kerze ist auch erlaubt. Wenn nur ein elektrisches Jahrzeitlicht vorhanden ist, ist auch dieses verwendbar. Dieses Jahrzeitlich soll die gesamte Zeit der Schiwwa, auch Samstags, brennen bleiben (Samstags darf man es jedoch nicht entzünden). Auch indem kein Schiwwe gesessen wird, muss das Jahrzeitlicht ab dem Augenblick des Versterbens bis zum Ende der Schiwwa brennen.

 

Raum für die Bezeugung von Gefühlen

Rabbiner Hirsch vermerkt, dass der Schiwwa-Zeitraum vollkommen für die Verarbeitung der Trauergefühle bestimmt ist. Für die Bewältigung „wird Raum geschaffen, wodurch die Trauer eingeschränkt und beherrscht werden kann“. Der Verstorbene wurde begraben; in der Schiwwe wird sich der Trauernde mit den Folgen des Versterbens auseinander setzen, sich den entstandenen Zustand vor Auge führen.

Vor den Vorgängen des alltäglichen Lebens verschont, befindet sich der Trauernde in einem Niemandsland zwischen zwei Lebensphasen: der Beziehung mit dem Toten und der mit den Lebenden. Die jüdischen Trauervorschriften erfordern vom Trauernden Dinge zu machen, für die unter normalen Umständen keine Zeit oder Interesse besteht. Die Trauervorschriften und das sich gemeinschaftliche Kümmern lotsen den Trauernden durch dieses Niemandsland hindurch.

 

In jeder Interaktion zwischen dem Nahestehenden, also der trauernden Bezugsperson, und dem Besucher(n) wird die Geschichte aufs Neue thematisiert, immer mit neuen Nuancen. Andauernd erfolgt die Abwechslung zwischen Freiheit und Einschränkung, Rückblick und dem nach vorne schauen. Nach einer gewissen Zeit folgt ein immer aktiveres (religiöses) Verhalten in Richtung einer neuen Identität, nämlich der ohne die verstorbene Person.

 

Die Vorschriften enthalten allerlei unausgesprochene Einflüsse, die eine Veränderung im Empfinden und Wahrnehmungen erzeugen. Durch Gespräche mit Freunden und Bekannten reagieren die Trauernden immer wieder auf das ursprüngliche, traumatische Geschehen. Erinnerungen, Erzählungen und Fotos rufen immer wieder emotionale Reaktionen hervor, die hierdurch nach und nach verarbeitet werden. Diese Interaktionen zwischen dem Verstorbenen, den Nahestehenden und das umgeben sein durch Familie, Freunden und Bekannten bilden die Grundlage der Verarbeitung.

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Die halachische Grundlage

Alle diese Faktoren finden wir in der Schiwwe wieder: der Trauernde ist sieben Tage von den alltäglichen Belastungen entbunden; er darf selbst nichts anderes machen, als trauern. Freunde und Bekannte übernehmen die täglichen Aufgaben. Er wird von der Gemeinschaft umsorgt, die sich bei seiner Anwesenheit seinem Gemütszustand zu unterwerfen hat. Er bestimmt die Abläufe, den Zustand. Die Besucher treten ein, setzen sich und warten, bis der Trauernde sie anspricht.

 

Die Gemeinschaft erhält eine Art einfühlsame Therapeuten-Rolle zugewiesen. Anmerkungen des Besuches, die einen Unterton eines Vorwurfes haben, sind verpönt. Die Prinzipien von „totaler Akzeptanz“ und „nicht verurteilen“ sind sehr zu empfehlen. Diese Prinzipien fußen auf dem Biblischen Prinzip „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ und auf dem Talmudischen Prinzip, dass besagt, dass „was Du nicht möchtest, dass Dir geschieht, das tue auch einem Anderen nicht an“.

 

Durch die Anwesenheit des Besuches, der lediglich nur kommt, um bei der Trauerbewältigung behilflich zu sein, wird der Trauernde zu einem so groß wie mögliches Maß an Katharsis (emotionaler Entladung) ermutigt.

Das bedeutet praktisch, dass die Familie immer wieder über den Verstorbenen spricht; die Umstehenden hören sich das an und erzählen auch über ihre Begebenheiten mit dem Toten. Aus einer Untersuchung ging hervor, dass die Unterredungen mit Freunden und Familie halfen, den Schmerz tatsächlich zu lindern. Auf diese Weise erhält selbst die Familie ein zusätzliches Bild ihres Verstorbenen; die Tatsache, dass der Dahingeschiedene auch Anderen viel bedeutet hatte, ist bei der Trauer eine große Unterstützung. Die Gemeinschaft ist weiterhin ein unterstützender Faktor, insoweit sie die Familie über die oft vorhandenen Schuldgefühle hinweg hilft. Durch diese Unterstützung bedingt, ist von Schuldgefühl kaum die Rede.

 

Weg von Personen-Bezogenheit

Vorhin wurde vermerkt, dass das Befolgen der Trauervorschriften als eine Äußerung des Niemandslandes zu betrachten sei, in dem der Trauernde sich befindet. Dieses Niemandsland ist nicht losgelöst zu betrachten, sondern erhält eine sehr spezifische Bedeutung. Inhaltlich ist das als eine Art weg von einer Personen-Bezogenheit und Entfremdung zu betrachten, die einher geht mit der entfremdenden Qualität des Todes.

Die Trauernden haben diese Entfremdung, durch den direkten Bezug zum Tod, von sehr nahe erfahren. Der Trauernde darf seine Haare nicht pflegen – die Pflege wird als eine Art von Würdigung empfunden – und keine saubere Kleidung anziehen. Rabbi Jochanan (B.T. Schabbat 114b) sagt, dass die Kleidung die Wertschätzung der Person ausdrückt (vergleich „Kleider machen Leute“). Ein Trauernder wäscht sich nicht, wegen des Status einer „Nicht-Person“ (bedeutet spirituelle Abwesenheit während der Schiwwa).

Der Trauernde hat keinen intimen Umgang, was potentiell sonst die Erzeugung neuen Lebens bedeuten könnte. Der Trauernde geht auch ohne ledernes Schuhwerk. Schuhe sind ein Symbol von Unabhängigkeit. Als G“tt Mosche am brennenden Dornbusch zu Sich rief, gebot ER ihn, die Schuhe aus zu ziehen. Die Idee, die dahinter stand, war die Aufgabe der eigenen Identität und Unabhängigkeit, eine totale Hingabe an den Allmächtigen.

Auch während der Schiwwa gibt man seine Unabhängigkeit auf; die Persönlichkeit ist nicht mehr vollständig, erhabene Gefühle und hochtrabende Vorhaben sind während eines gewissen Zeitraumes aufgeschoben.

 

Vorhaben auf Halt gestellt

Das Arbeiten ist verboten, da Arbeit das Leben unterstützt und ein Ausdruck der Person und ihrer Beziehung zu Anderen ist. Man darf die Thora nicht lernen, da sie die “Lehre des Lebens“ genannt wird, die den Mensch mit G“tt verbindet und eine Äußerung der höchsten menschlichen Bestrebung, Perfektion und Heiligkeit ist. Ein Trauernder sitzt, als Zeichen seiner Niedergeschlagenheit und eingeschränkter Persönlichkeit, auf der Erde/auf dem (Fuß)Boden.

 

Identifizierung

Im Grunde genommen verlangen die Vorschriften, dass die Trauernden sich selbst so benehmen, als ob auch sie selbst – ein Wenig – tot wären. Die heutige Art zu leben, gibt ihre Unvollkommenheit wieder. Ihr Verhältnis zum Mitmenschen ist gestört, sie können und mögen nicht mit Anderen mit leben, selbst nicht bei der Trauer eines Anderen. Sie dürfen nicht mit dem Wort Schalom – Frieden und Vollkommenheit – grüßen, denn Schalom ist ein Symbol von Gemeinsamkeit und Bruderschaft. Es ist auch EINER der Namen des Allmächtigen, den sie nicht anrufen dürfen, denn auch ihre Beziehung zu G“tt ist gestört. In Kürze  zusammengefasst ist das Versterben eines Geliebten EINES der Aspekte des Lebens, der den Menschen einem Tier ähneln lässt.

 

Epilog

Die jüdische Philosophie geht davon aus, dass der Mensch seine Emotionen steuern kann und in relativ kurzer Zeit ändern. Er braucht nicht darauf zu warten, bis der eine Schauer vorbei ist und der andere sich langsam ankündigt.

Die emotionelle Struktur der Schiwwa lässt widerstrebende Gefühle zu. Den Trauernden steht eine heroische Aufgabe bevor: sie müssen versuchen, die Brocken ihrer im Schockzustand befindlichen Persönlichkeit zusammen zu raffen, um den verlorenen Glanz, die Wertschätzung und die Einzigartigkeit zurück zu finden.

Der Mensch darf sich durch die Finsternis des Todes nicht verwirren lassen. Die Schiwwa bieten dem Menschen die Gelegenheit, Größe zu zeigen, indem er eine innigere Verbundenheit zu G“tt und ein gefestigte Verbindung zum Mitmenschen aufbaut.

Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit, die furchtbarste Hölle, in denen die Nazis Millionen Jüdische Kinder, Frauen und Männer bestialisch ermordet haben.

Am 27. Januar 2019 jährt sich der Tag, den der ehemalige Bundespräsident Dr. Roman Herzog zum Internationalen Holocaust-Gedenktag fest gelegt hat. Viele von uns, die heute leben, gedenken der versuchten Vernichtung unseres Jüdischen Volkes. Das Wissen um die Schiwwa gehört zu unserem jüdischen Alltag.

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