Der paradoxe Mensch
Der Drang, etwas zu besitzen, ist eine grundlegende menschliche Eigenschaft oder Neigung. Innerhalb des Judentums lassen sich grob zwei Neigungen unterscheiden: dem “jetzer hara” – wörtlich: die schlechte Neigung -, die den Menschen zum Irdischen zieht, und dem “jetzer hatov” – wörtlich: die gute Neigung -, die den Menschen nach dem Übernatürlichen, dem Erhabenen und dem Spirituellen streben lässt.
Körper und Seele
Das Judentum betrachtet den Menschen als eine paradoxe Kombination aus Körper und Seele. Die Vereinigung der beiden – Körper und Seele, die so oft als gegensätzliche Schöpfungen betrachtet werden – wird im Judentum als etwas Wunderbares erlebt, das die spezifische und besondere Natur des menschlichen Daseins bestätigt.
Einerseits trägt der Mensch Züge dieser Welt in sich, wie sie auch in Pflanzen und Tieren zu sehen sind – die Körperlichkeit des Menschen und seine Grundtriebe -, andererseits gehört er durch die höheren Formen seiner Seele zu höheren Welten.
Er bildet dadurch somit die einzig mögliche Verbindung zwischen den beiden. Im Judentum wird die duale Natur des Menschen wie folgt beschrieben und empfunden, um eine Aussage der Chachamim (Talmudgelehrte) zu zitieren:
“Der Mensch ist in dreierlei Hinsicht wie ein Engel und in dreierlei Hinsicht wie ein Tier; er ist in dreierlei Hinsicht wie ein Engel, weil er einen Verstand wie ein Engel hat, aufrecht geht wie ein Engel und sprechen kann wie ein Engel. In dreierlei Hinsicht ist der Mensch aber auch wie ein Tier, denn er isst und trinkt wie ein Tier, pflanzt sich fort wie ein Tier und scheidet die unbrauchbaren Teile seiner Nahrung aus wie ein Tier” (B.T. Chagiga 16a).
Kopf im Himmel
Diese “Verdoppelung” des menschlichen Charakters zeigt sich auch in der äußerlichen Gestalt des Menschen. Die tote Substanz befindet sich in der Erde. Die Flora steht mit ihren Wurzeln in der Erde, schöpft aus ihr Lebenskraft und steigt an die Oberfläche.
Die nächste Lebensform, die Fauna, bedient sich der vorherigen Kategorien, steht aber mit dem Kopf zur Erde.
Der Mensch ist das Bindeglied zwischen Himmel und Erde. Mit den Füßen stehen wir auf der Erde, aber mit dem Kopf orientieren wir uns an höheren Dingen als Zeichen unserer Spiritualität. Wir interagieren sowohl mit dem Himmel als auch mit der Erde. Die Kombination ist die eigentliche Bestimmung der Schöpfung.
Spannung zwischen Geist und Materie
Es stellt sich die Frage, warum G’tt sich nicht mit einer spirituellen Welt begnügen konnte Warum hatte G’tt das Bedürfnis, eine materielle Welt zu kreieren?
Rabbi Aryeh Kaplan geht auf diese Frage ein. In der materiellen Realität gibt es die Konzepte von Raum und Ort. In einer spirituellen Welt sind Raum und Ort undenkbar. Im Geist gibt es nur einen konzeptionellen Raum. Begriffe, die sich in mancher Hinsicht ähneln, werden als nahe beieinander liegend bezeichnet, während Konzepte, die sich gegenseitig ausschließen, als weit voneinander entfernt bezeichnet werden. In der physischen Welt ist es möglich, zwei Stoffe miteinander zu verschmelzen. In einer spirituellen Welt ist dies unmöglich.
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Eine materielle Welt ist notwendig, um unterschiedliche und sogar widersprüchliche Dinge und Konzepte zu vereinen.
Bindung an das Irdische
Spirituelle Einheiten können jedoch an körperliche Objekte gebunden sein, so wie eine menschliche Seele an einen physischen Körper gebunden sein kann. Widersprüchliche Begriffe können nur durch ein irdisches Objekt zusammengebracht werden. Das klassische Beispiel für diese Einheit in der Vielfalt ist der Mensch selbst. Aus rein spiritueller Sicht sind Gut und Böse unvereinbare Gegensätze und werden nie zueinander finden. Bei Engeln, geistigen Wesen, ist ein Nebeneinander von Moral und Unmoral nicht denkbar. Nur in einem physischen Körper können Gut und Böse gemeinsam existieren. Die einzige Möglichkeit, wie verschiedene spirituelle Unverträglichkeiten zusammenkommen können, ist die Bindung an einen gemeinsamen physischen Punkt. In einem menschlichen Körper gibt es einen materiellen und einen spirituellen Expansionsdrang.
Der Sinn des irdischen Lebens
Um Himmel und Erde an ihren Bestimmungsort zu bringen, wurde dem Menschen eine Seele gegeben. Die G’ttlichkeit der menschlichen Seele zeigt sich in der folgenden talmudischen Aussage, die einen Vergleich zwischen dieser mikrokosmischen Größe und dem Schöpfer des Makrokosmos zieht:
*Wie ist es mit G’tt? Er füllt das ganze Universum aus; in ähnlicher Weise füllt die Neschama (die menschliche Seele) den ganzen Körper aus.
*Wie ist es mit G’tt? Er sieht, aber er kann nicht gesehen werden; ebenso sieht die Neschama, aber sie kann nicht gesehen werden.
*Wie ist es mit G’tt? Er ernährt und erhält die ganze Welt; ebenso ernährt die Seele den Körper und erhält den Körper.
*Wie ist es mit G’tt? Er ist tahor (rein); so ist auch die Neschama rein.
*Wie ist es mit G’tt? Er ist für den (durchschnittlichen) Menschen (in seiner Welt) kaum zu erkennen; ebenso ist die Neschama (für die meisten Menschen) ein nicht greifbares Ganzes (B.T. Berachot 10a ).
Alle Seelen wurden gleich mit der gesamten Schöpfung geschaffen und warten im Gan-Eden, dem Paradies, bis sie im Körper eines Menschen in die materielle Welt hinabsteigen können. Denn obwohl sie es als angenehm empfinden, ständig bei G’tt zu sein und Anteil an der G’ttlichkeit zu haben, haben sie nichts dafür getan. Sie schämen sich für diesen ungeteilten Genuss, weil sie nicht dafür gearbeitet haben.
Prüfungen
Deshalb will die Seele den Prüfungen des menschlichen Lebens hier auf der Erde ausgesetzt werden, um aus eigenem Verdienst ein Recht auf ihre Anwesenheit im Gan-Eden (Paradies) geltend zu machen. Wenn die Seele in einen Körper hinabsteigt, erfährt sie eine enorme Absenkung des Niveaus. Im Gan-Eden muss er sich nicht anstrengen, um den Prüfungen des materiellen Lebens zu widerstehen, aber in seiner irdischen Existenz erreicht er das Ziel, für das er geschaffen wurde.
Letztlich ist es die Absicht, dass die G’ttliche Seele die Führung übernimmt und mit den Kräften der tierischen Seele den Körper weiterbringt, wie ein Reiter, der ein Pferd reitet. Wenn er weiß, wie er sich das Tier zu Nutze machen kann, kann es ihn weiterbringen, als er es allein je hätte tun können.