JUDENTUM IST TRADITION UND EIGENE ERFÜLLUNG
Stellen Sie sich vor, dass es eine Generation lang kein Judentum gäbe. Dieses würde für das Judentum ein Unglück bedeuten, da Judentum überwiegend Tradition bedeutet, die Weitergabe von Normen und Werten durch die eine Generation an die andere, von Eltern an Kindern, von Lehrern an Schülern.
Andererseits vermerkt der Talmud, dass wenn wir die Thora nicht erhalten hätten, wir viele Richtlinien selber hätten ausdenken oder diese aus der Natur hätten ableiten können. So hätten wir Zurückhaltung von der Katze lernen können, das Verbot des Diebstahles von Ameisen und die Treue von den Tauben (B.T. Eruwin 100b).
Judentum ist ein Mix von Altem und Neuem, von Erlebnissen, Emotionen und Gedanken, der durch jahrhundertlange Volkserfahrungen bestätigt wird, gefiltert und für richtig befunden wurde, aber auch durch die eigene Erfüllung aller dieser traditioneller Ereignisse hier und heute in Deutschland.
Diesen Gedanken bekräftigen wir jeden Tag in unserem Achtzehngebet: wir sprechen über den Allmächtigen als unseren G“tt, aber auch als den G“tt unserer Vorfahren, da beide Unterteilungen für unsere gegenwärtige religiöse Belebung wichtig sind.
Wir kommen nicht ohne Tradition aus, aber Tradition allein reicht nicht.
Diesen Gedanken sehen wir diese Woche auch wieder. Die Töchter von Tselofchad heirateten innerhalb ihres Stammes Menasche (36:6). Weshalb? Um vor zu beugen, dass ihr Erbteil in Israel auf einen anderen Stamm übergehen würde. Die fünf Töchter hatten einen Erbteil in Israel beansprucht. Sie trugen Mosche und den siebzig Ältesten ihre Argumente und Forderungen vor. Hierzu wird vermerkt, dass die Töchter von Tselofchad die Urenkelkinder von Joseph waren (27:1). Rabbi Feinstein (New York, zwanzigstes Jahrhundert) stellt die Frage, wieso ihre Abstammung von Joseph hier so herausragend vermerkt wird?
Raschi (zwölftes Jahrhundert) hatte diese Frage bereits damit beantwortet, dass Joseph hier genannt wird, da Urgroßvater Joseph Israel genau so liebte wie seine Urenkeltöchter, die viele Jahrhunderte später ihren Erbteil in Israel forderten.
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Rabbi Feinstein fragt weiter und sagt, dass Tselofchad`s Töchter ihre Liebe zu Israel auch hätten zeigen können, indem sie ganz normal mit ins Heilige Land eingezogen wären, ohne dass sie in Israel einen Erbteil erhalten hätten. Weshalb mussten sie so dringend ein Stück Land haben?
Rabbi Feinstein besagt, dass wenn wir etwas wirklich lieb haben, wir dieses auch besitzen möchten. Tselofchad`s Töchter forderten eigenen Grundbesitz. Ihre Liebe zu Israel war so gewaltig, dass sie den Sanhedrin mit allerlei Argumenten für ihren eigenen Besitz beanspruchten. Letztendlich gab G“tt ihnen Recht.
Dass eigener Besitz den wahren Beweis von Liebe zeigt, sehen wir auch bei vielen anderen Mitswot (Geboten). Das sechshundertunddreizehnte Gebot der Thora lautet,
dass jeder eine Thorarolle für sich selber schreiben soll. Das wäre wirklich das Ideal. Aber da dieses nicht realistisch scheint, kann man seine Liebe zur Thora auch zeigen, indem man jüdische Bücher kauft. Der Besitz des Gegenstandes oder der Sache ist nicht das Ende des Vergnügens, sondern gerade der Anfang einer sinnigen Erfüllung unseres Lebens.
Die Thora findet es erforderlich, die Töchter von Tselofchad mit ihrer Abstammung von ihrem Urvater Joseph zu verknüpfen. Weshalb? Wenn wir die Mitswot (Gebote) nur erfüllen, wenn wir uns hierüber erwärmen und begeistern können, bleibt die Erfüllung der Thora auf unsere eigenen Gefühle beschränkt. Sobald diese begeisterte Rührung abgeflaut ist, ist es mit unserem gesteigerten Befinden vorbei. Andererseits gilt, dass wenn wir die Thora „nur“ beachten, da wir hiermit von unseren Vorfahren beauftragt wurden, unser Judentum stumpf und kalt wird und keine Erfüllung und Vertiefung bringt.
Unser Judentum ist beides: Tradition und eigene Erfüllung.