Die Tora lehrt, dass der Mensch die schlechten Ereignisse in seinem Leben relativieren sollte.Im Wochenabschnitt Wajigasch lesen wir von dem lang ersehnten Treffen unseres Erzvaters Yakov mit seinem verlorenen Sohn Yosef. Der erarbeitete sich in Ägypten eine sehr hohe Position und weil im Land Kanaan eine Hungersnot herrschte, beschloss Yakovs Familie, nach Ägypten zu ziehen. Kurz nach dem Wiedersehen mit seinem Vater wollte Yosef ihn dem Pharao, dem ägyptischen König, vorstellen.
Die Tora beschreibt das Treffen zwischen den beiden: »Und Pharao sprach zu Yakov: ›Wie viele sind die Tage deiner Lebensjahre?‹ Und Yakov sprach zu Pharao: ›Die Tage meiner Pilgerjahre sind 130 Jahre. Wenig und trübe waren die Tage meiner Lebensjahre und reichen nicht an die Tage der Lebensjahre meiner Väter in der Zeit ihrer Pilgerschaft‹« (1. Buch Mose 47, 8–10).
KRITIK
Der Midrasch kritisiert Jakow für seine negative Lebenseinstellung und sagt: Für jedes Wort, mit dem er sich über sein Leben beklagte, habe G’tt ihm ein Lebensjahr abgezogen. Aus diesem Grund lebte Yakov 33 Jahre weniger als sein Vater Yitzchak.
Doch wenn wir Yakovs Worte im hebräischen Original zählen, kommen wir nur auf 25. Um auf 33 Wörter zu kommen, müssen wir die einleitende Frage des Pharao mitzählen. Rabbiner Chaim Schmulewitsch (1902–1979) fragt deshalb: Warum musste Jakow wegen Pharaos Frage bestraft werden? Immerhin waren es acht Jahre seines Lebens, die ihm wegen der acht Wörter aus dem Mund des Pharaos entzogen wurden.
Rabbiner Schmulewitsch erklärt, Yakov sei auch für Pharaos Frage bestraft worden, weil er so alt und niedergeschlagen aussah. Durch sein Aussehen und seine Körperhaltung provozierte er die Frage des Pharaos: »Wie alt bist du?« Obwohl Yakov noch gar nicht so betagt war, sah er viel älter aus, als er in Wirklichkeit war. Darin bestand sein Vergehen.
Aber: Kann man jemanden dafür verantwortlich machen, dass er älter aussieht, als er ist? Ja, das kann man. Denn der Alterungsprozess lässt sich begrenzt steuern, nämlich indem man es lernt, die schlechten Ereignisse des Lebens zu relativieren. Yakov hatte ein sehr schweres Leben. Als junger Mann musste er sein Zuhause verlassen und fliehen, um nicht von seinem Zwillingsbruder umgebracht zu werden. Dann musste er 14 Jahre für seine Geliebte Rachel arbeiten und wurde von seinem Schwiegervater mehrmals betrogen. Er verlor seine Tochter Dina, und bei der Geburt seines zwölften Sohnes starb seine Frau. Und schließlich dachte er viele, viele Jahre, sein geliebter Sohn Yosef sei tot.
Wer erkennt, dass G’tt in allen Geschehnissen Seine Hand im Spiel hat, weiß, dass nichts auf dieser Welt ohne Grund passiert. Spätestens nachdem Yakov den Yosef wiedersah und ihm einleuchtete, warum diese Leidenszeit von oben geschickt wurde, und wie die Geschehnisse Yosef zu dem machten, was er war, hätte er wieder aufblühen müssen. Doch Yakov blieb betrübt, selbst in den Zeiten der Freude.
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ERZÄHLUNG
Im Talmud wird eine Geschichte von dem berühmten Rabbi Akiva erzählt. Der begab sich einmal auf eine längere Reise. Als es schon dämmerte, versuchte er in einem Dorf, durch das er gerade kam, Unterkunft zu finden. Doch keiner der Bewohner war bereit, ihn aufzunehmen. So war er gezwungen, die Nacht auf dem Feld zu verbringen, was damals sehr gefährlich war. Doch Rabbi Akiva sagte: »Gam so letowa« – »auch dies ist zum Guten«.
Er hatte einen Esel dabei, auf dem er ritt, eine Lampe, damit er nachts Tora lernen konnte, und einen Hahn, der ihn morgens wecken sollte. Doch der Wind löschte das Feuer in der Lampe. Rabbi Akiva sagte wieder: »Gam so letowa« und schlief ein.
Als er am späten Morgen erwachte, stellte er fest, dass Hahn und Esel verschwunden waren. Mit den Worten »Gam so letowa« setzte er seine Reise fort.
Als er wieder an dem Dorf vorbeikam, stellte er fest, dass alle Einwohner in der Nacht von Räubern getötet worden waren. Wenn er im Dorf Zuflucht gefunden hätte, wäre er jetzt nicht mehr am Leben. Wenn die Lampe nicht erloschen und der Esel nicht weggelaufen wäre, hätten die Räuber ihn bestimmt von Weitem bemerkt. Den Hahn hätten sie auch hören können. Das heißt, dass all die Ereignisse, die er als schlecht hätte interpretieren können, in Wirklichkeit sein Leben retteten.
Wir wissen nicht, warum manches in der Welt oder in unserem Leben geschieht, doch genauso wenig können wir in unserer Subjektivität erkennen, welche Ereignisse wirklich gut oder schlecht sind, und welche uns nur so erscheinen. Jeder von uns hat Probleme, viele von uns leiden. Doch wir müssen verstehen, dass diese Welt kein Paradies ist und auch nicht als solches erschaffen wurde. Viele Prüfungen werden uns gegeben, um uns wachsen zu lassen, damit wir bessere und stärkere Menschen werden.
Es hängt oft von uns selbst ab, wie wir die Geschehnisse betrachten oder aufnehmen und verarbeiten. Wer sich auf die guten Dinge konzentriert (von denen es so viele auf der Welt gibt!) und lernt, auch die schlechten positiver zu betrachten, ist weniger anfällig für Depressionen. Jemand, der wirklich an G’tt glaubt, versteht immer, dass nichts umsonst geschieht und dass der Allmächtige einen Plan für jeden von uns hat. Selbst, wenn uns vieles während einer bestimmten Zeit als schlecht erscheint, kann es sehr wohl zu einem guten Ergebnis führen.