KAPITEL 3
DETAILLIERTE ANALYSE DES KADDISCH
3.1 DER ANFANG DES KADDISCH
“Jitgadal wejitkadasch sch’mé rabba be’alma di w’ra chiruté wejamlich malchuté – Einmal wird sein ganzer Name in Größe und Heiligkeit in einer Welt anerkannt sein, die Er nach Seinem Willen geschaffen hat, in der nur Seine Herrschaft gelten soll“.
Auf diese Hoffnung zielt “we’imru Amén” – und wir sagen Amen – auf das die Gemeinde antwortet “amén jehé sch’mé rabba mewarach le’alam ule’almé almaja”.
Die Worte `bechajéchon uwejoméchon uwechajé dechol bét Jisraél, ba’agala uwisman kariw“ rezitiert nur der Chasan, um die Hoffnung auszudrücken, dass dieses hohe Ziel noch in unseren Tagen erfüllt werden kann. Hierauf folgt das Kaddisch mit einer Verherrlichung von G’tt, die durch alle höheren und tieferen Sphären klingt: ‚jitbarach wejischtabach wejitpa’ar wejitromam wejitnassé wejithadar wejit’alé wejithalal sche’mé dekudscha berich hu’ – was in die Erkenntnis mündet, dass G’ttes Majestät tatsächlich über Alles erhoben ist, und wir Ihn mit Allem ehren können: „berich hu le’éla min kol birchata weschirata tuschbeachata wenèchèmata“. Bis hier hin reicht das eigentliche Kaddisch.
Es folgt die Frage, ob G’tt unser Gebet für die Wiederherstellung seines ganzen Namens vernehmen kann: “titkabal zelotehon”; dass sich auch die Engel unseren Gebeten anschließen mögen und schließlich „ossè schalom bimromaw” – das Bekentnis, dass der Sinn unseres gesamten Gebets nur die Harmonie des ganzen Universums ist: Frieden und Harmonie sorgen dafür, dass auch die Himmlische Bracha Wirklichkeit wird.
3.2 TITKABAL ZELOTEHON – MIT DIESEN WORTEN BITTET MAN, DASS DAS GEBET UND DAS FLEHEN GANZ ISRAELS ANGENOMMEN WIRD.
Wahrscheinlich gehören die letzten drei Strophen
“titkabal zelotehon“,
„ jehé sch’mé rabba“ und
„ossè schalom bimromaw” – nicht zum Kaddisch-Gebet, obwohl sie bereits zur Zeit von Rav Amram Gaon gesprochen wurden. Die Worte “titkabal zelotehon” beziehen sich nicht so sehr auf den Inhalt des Kaddisch, sondern auf die Gebete, die mit dem Kaddisch abgeschlossen werden. Laut Lewusch wird das Kaddisch titkabal eigentlich erst nach dem Schmone Esre am Ende des gesamten Gebets und nach den Slichot (Bußgebeten) gesprochen, dessen letzte Gebete einen ganz eigenen Charakter haben. Die letzten beiden Strophen – „jehé sch’mé rabba“ und „ossè schalom bimromaw”- dienen dazu, den Übergang aus der Synagoge zum Alltag mit seinen Spannungen und Problemen zu erleichtern: “Möge G’tt Frieden und Harmonie unserem täglichen Leben schenken”.
3.3 WEITERE ANALYSE DES KADDISCH
Die zehn Lobpreisungen ‚jitgadal wejitkadasch jitbarach wejischtabach wejitpa’ar wejitromam wejitnassé wejithadar wejit’al`è wejithalal“ sind in hebräischer Sprache, weil sie nach Raschi, Kolbo und Awudraham nicht gut ins Aramäische übersetzt werden konnten. Vielleicht hat die besondere Bedeutung dieser zehn Verben zu einer sprachlichen Trennung zwischen diesen Verben und den anderen Inhalten des Kaddisch geführt.
DIE VIER LOBPREISUNGEN
Laut Kolbo deuten die vier verschiedenen Ausdruck für Lob „birchata weschirata tuschbeachata wenèchèmata” – Lobpreisung, Gesang, Huldigung und Trost – auf die vier Buchstaben des Tetragramms des G’ttesnamen hin, die nicht ausgesprochen werden dürfen. Jeder Buchstabe im Tetragramm spiegelt G’ttes Ruhm auf eine andere Weise wider.
Diese vier Lobpreisungen, zusammen mit den anderen elf Verben des Lobes ‚jitgadal wejitkadasch wejamlich wejischtabach wejitpa’ar wejitromam wejitnassé wejithadar wejit’al`è wejithalal wejitkallas’, stehen laut Rawan den 15 Shirei haMa’alot – Gesänge beim Aufstieg – aus den Tehillim (Psalmen) gegenüber. Diese ‘erhebenden Lieder’ wurden auf den fünfzehn Stufen gesprochen – darauf basiert die niederländische Übersetzung: Treppenlieder -, die den Ezrat Naschim (Vorhof) mit dem Ezrat Jisrael – dem heiligeren Teil des Tempels – verband.
Das Kaddisch, das in West Europa bekannt ist, enthält – nach Meinung der Geonim und Raschi nur zehn (und nicht elf) Verben des Lobes. Dies entspricht den zehn Aussagen, mit denen G’tt die Welt und die Zehn Gebote erschaffen hat.
Die Trennung zwischen den ersten beiden Verben des Lobes – jitgadal wejitkadasch – und den übrigen acht zeigt laut R. Zedekiah ben Abraham HaRofeh im Schibbole ha-leket den Unterschied zwischen den ersten beiden und den übrigen acht der Zehn Gebote an. Die ersten beiden der Zehn Gebote wurden von G’tt direkt an das Jüdische Volk übermittelt, die restlichen acht durch die Vermittlung von Mosche Rabbenu.
DER BEGRIFF NECHEMATA
Der schwierigste Begriff in diesen vier Lobpreisungen ist das Wort ‘nechemata’ – Trost. Der Text lautet auf Deutsch “den Namen des Heiligen, der über alle Ausdrücke von Lob, Gesang, Huldigung und Trost gepriesen wird”. Raschi gibt für das letzte Wort – Trost – zwei Erklärungen.
Zuerst erklärt er, dass “alles, was David zum Lob von G’tt gesungen hat, er ausschließlich mit Blick auf den großen Tag des Trostes“, am Ende der Zeit komponiert hat. “Über … allem Trost” bedeutet dann „erhoben über alle Verherrlichung, die die Propheten und David angesichts des Tages des Trostes verkündet haben”.
In einer zweiten Aussage meint Raschi, dass das Wort Trost auf einer Aussage im B.T., Berachot 3a beruht: “Jeden Tag wird dreimal eine wehklagende Stimme gehört, die ausruft: “Wehe den Söhnen, durch deren Übertretungen Ich meinen Tempel verwüstet und Meine Kinder unter die Völker zerstreut habe“. Wenn die Israeliten in die Bet- und Lehrhäuser eintreten und rufen: “amén jehé sch’mé rabba”, dann schüttelt der Heilige, gepriesen sei Er, sein Haupt und spricht: „Heil dem König, den man in seinem Hause preist; wehe dem Vater, der seine Kinder vertrieben, und wehe den Kinders, die vom Tisch ihres Vaters vertrieben wurden.“ Um dieses Leide der Schechina – der G’ttlichen Immanenz – zu lindern, erklingen durch das Kaddisch ein Worte des Trostes.
3.4 DIE KEDUSCHA VON ‚JEHÉ SCH’MÉ RABBA“
An zentraler Steller steht im Kaddisch die Lobpreisung: ‘jehé sch’mé rabba’. Der Begriff Kaddisch kommt im Talmud als solcher nicht vor; die hohe Bedeutung von jehé sch’mé rabba wird jedoch im Talmud diskutiert:
1. “Wenn die Israeliten in die Bet- und Lehrhäuser eintreten und rufen: “amén jehé sch’mé rabba”, dann schüttelt der Heilige, gepriesen sei Er, sein Haupt und spricht: „Heil dem König, den man in seinem Hause preist; wehe dem Vater, der seine Kinder vertrieben, und wehe den Kinders, die vom Tisch ihres Vaters vertrieben wurden.“ (B.T. Berachot 3a)
2. „Wer ‘jehé sch’mé rabba’ (im Traum) antwortet, der sei sicher, dass er ein Kind der zukünftigen Welt, Olam Haba, ist (B.T. Berachot 57a).
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3. „Wenn jemand “amén jehé sch’mé rabba“ mit seiner ganzen Kraft spricht, so wird das über ihn gefällte (böse) Urteil zerissen“ (B.T. Schabbat 119b).
4. „Wodurch wird demnach die Welt erhalten ? – Durch den täglichen Heiligungssegen (Keduscha de-Sidra) und ‚jehé sjeméh rabba’ nach einem Lehrvortrag’ (B.T. Sota 49a).
Die alles überragende, einzigartige Keduscha von jehé sjeméh rabba zeigt sich im Folgenden besonders deutlich:
“Darf man das Schmone Esre unterbrechen, um “jehé sjeméh rabba” zu sagen? Rav Dimi sagte: R. Jehuda und R. Schimon, Schüler von R. Johanans, sagen: man unterbreche sonst nicht, nur zu „jehé sjeméh rabba’. Die Halacha ist aber nicht wie er” (und in der Praxis darf man während der Schmone Esre nicht “jehé sjeméh rabba“ antworten; B.T. Berachot 21b).
3.5 DIE BEDEUTUNG VON ‚JEHÉ SCH’MÉ RABBA“
Über die genaue Bedeutung der Worte ‘jehé sch’mé rabba mewarach le’alam ule’almé almaja’ gibt es unterschiedliche Auffassungen. Im Machsor Vitry wird die Ansicht vertreten, dass dieser Satz in zwei Teile gegliedert werden muss:
1. JEHÉ SCH’MÉ RABBA
2. MEWARACH LE’ALAM ULE’ALMÉ ALMAJA
Laut Machsor Vitry drückt der erste Teil des Satzes den Wunsch aus, dass der Name G’ttes bald vollständig ausgesprochen wird, so wie der Name geschrieben wird. Nicht wie jetzt, in der Galut, in der der Name G’ttes anders ausgesprochen wird, als er geschrieben steht, sondern wie uns von den Propheten versprochen (Zacharia 14:9) „Und der Ewige wird König sein über die ganze Erde; an selbigem Tage wird der Ewige einzig sein und sein Name einzig.“
Der zweite Satz drückt den Wunsch aus, dass dieser vollständige G’ttesname, der G’ttes Herrschaft über die Erde zeigt, bald in allen Welten und Gegenden bekannt und anerkannt wird. Das Wort ‘mewarach’ aus dem zweiten Satz bedeutet nicht nur ‘gesegnet’, sondern auch ‘näher gebracht’; in diesen Worten drücken wir die Hoffnung aus, dass wir so bald wie möglich Zeuge werden, dass die Herrschaft G’ttes auf Erden gefestigt und anerkannt wird.
Die Tosafisten (B.T. Berachot 3a) wollen den Satz ‘jehé sch’mé rabba mewarach le’alam ule’almé almaja’ nicht aufsplitten und glauben, dass dies eine Gebetsformel ist. Der Satz bedeutet dort: “Möge Sein großer Name für immer (oder: in allen Welten) gepriesen (näher gebracht und anerkannt) werden“.
R. Jaakov ben Ascher, R. Josef Karo und R. Mosche Isserless folgen der Ansicht der Tosafisten und dies hat die zur Folge, dass der Satz ‘jehé sch’mé rabba mewarach le’alam ule’almé almaja’ nicht mit einer Unterbrechung gesprochen werden darf. R. Joel Sirkes fügt hinzu, dass dieser Satz in einem Atemzug ausgesprochen werden muss, um der Sichtweise der Tosafisten Folge zu leisten. Dieser letztgenannten Ansicht wird in der Praxis gefolgt.
DAS WORT JITBARACH IN BEZUG STEHEND AUF DIE ANTWORT AUF DEN ERSTEN TEIL DES KADDISCH
In Übereinstimmung mit den Tanach-Texten Psalm 113:2: „Der Name des Ewigen sei gepriesen von nun an bis in Ewigkeit” und Daniel 2:20: „Es sei der Name G’ttes gepriesen von Ewigkeit zu Ewigkeit” und der Ansicht vieler mittelalterlicher Gelehrter, wie Rav Amram Gaon und Maimonides, sollte das Wort Jitbarach nicht in die Antwortformel aufgenommen werden.
R. Josef Karo beschreibt diese Meinungen in seinem Bet Josef, entscheidet aber dennoch, dass “es verboten ist, zwischen den Worten “almaja’ und „jitbarach“ zu pausieren. Diejenigen, die das tun, irren sich! Die Grundlage für diese Entscheidung ist ein Midrasch, der besagt, dass man nicht zwischen den Worten’ almaja’ und ’jitbarach’ unterbrechen darf und einer Responsa von R. Rabbi Joseph Gikatilla, der die Unterbrechung stark ablehnt.
R. Elijah, der Gaon von Wilna und R. Schneur Salman aus Liadi glauben jedoch, dass das Wort ‘jitbarach’ den Beginn eines neuen Teils des Kaddisch markiert.
Mischna Berura (O. Ch. 56:15) entschied, dass es zulässig sei, das Wort ’jitbarach’ mit dem vorherigen zu beantworten, wenn eine kurze Pause zwischen den Worten ‘almaja’ und ’jitbarach’ gemacht wurde. Die Übersetzung der Antwort auf den ersten Teil des Kaddisch bedeutet
*nach dem Gaon von Wilna und R. Schneur Salman: “Möge Sein großer Name für alle Ewigkeit gepriesen werden” und
*nach R. Josef Karo u.a.: “Möge Sein großer Name gepriesen werden, ewig und in aller Ewigkeit gepriesen”.