Wir gehen 3330 Jahre zurück in die Zeitrechnung, zurück zu einem wilden, unwirtlichen Ort: Midbar Sinai, der Sinai-Wüste, wo nichts wächst oder blüht. Ein Donnerknall bei klarem Himmel, gewaltige Blitze entladen sich, das am meisten herausragende Ereignis der Menschheitsgeschichte wird sich vor den Augen von mehr als 1.200.000 erwachsenen Zeugen im Anschluss abspielen.
Aber, wo ist das Jüdische Volk? Der Midrasch vermerkt den Höhepunkt von „Chutspe“: am Tage, an dem das Jüdische Volk zu Mamlechet Kohanim – ein Königreich von Priestern – und Goi Kadosch – ein heiliges Volk- erwählt werden sollte, hatte es verschlafen!
SCHÄRFERE SICHTWEISE
Die Paschtanim, die einfachen Erklärer kommentieren es damit, dass die Juden durch die Wüstenwanderung müde waren. Nach einer ausgiebigen Nachtruhe hofften sie, für die G“ttliche Offenbarung (durch HaSchem) gut vorbereitet zu sein. Andere Meforschim – Kommentatore – gehen mehr in die Tiefe; dass die Juden, kurz vor Matan Tora (der Übergabe der Thora) verschliefen, kann nicht nur eine Folge der langen Wüstenwanderung sein. Die Juden verschliefen bewusst, da sie meinten, die Offenbarung G“ttes in schlafendem Zustand besser erfahren zu können als im wachen Dasein.
Im Wachzustand kann unser Bewusstsein nur Vorgänge verarbeiten, die wir sinnbildlich wahr nehmen. Im Schlummerzustand sind wir manchmal im Stande, etwas von erhabenen Welten zu erfassen. Die meisten Propheten sahen nur Visionen in ihren Träumen. Ein Traum heißt auf Ivrit „Chalom“ und ähnelt dem Wort „Chalon“ – Rahmen. In unseren Träumen wird uns schon mal, wie durch ein Fenster, ein Blick in himmlische Sphären gegönnt.
FEHLERHAFTE ANNÄHERUNG
Die Juden im Sinai wollten von dieser einmaligen Erfahrung so viel wie möglich „mitnehmen“ und glaubten, dass sie gut daran täten, schlummernd und schlafend zu verbleiben. Moshe Rabejnu weckte sie auf, da die Essenz des Judentums nun nicht ausgerechnet aus fantasievollen und träumerischen, spirituellen Spiegelungen besteht. Das Judentum ist eine Religion der wachsamen Wirklichkeit und soll mitten im vollen Leben seine Anwendung finden. Um diese fehlerhafte Annäherung zu korrigieren, lernen wir immer die ganze Nacht von Schawuoth hindurch.
NACHTS DURCHLERNEN
Hierzu wird ein spezieller „Tikun“ (Lernstoff) zusammen gestellt, in dem Passagen aus der Thora und Mischna (Mündliche Lehre), dem Sohar und einer Aufzählung aus den 613 Ge- und Verboten vorkommen. Jeder der Anwesenden trägt, wenn er an der Reihe ist, einen Teil aus diesem Tikun vor.
In der Kabbala wird auch aus einem anderen Grund dazu geraten, die Nacht im wachen Zustand und lernend zu verbringen. Die Tora ist die Zierde des Volkes Israel und die Offenbarung am Berge Sinai war im eigentlichen Sinn die Mitgift des Jüdischen Volkes. Die Schmuckstücke der Braut bereitet man in der Nacht vor der Hochzeit vor.
WOCHEN UND VERSPRECHUNGEN
Zu Schawuot im Jahr 2448 jüd.Zrn. verband sich das Jüdische Volk mit G“tt auf die Ewigkeit und G“tt versprach dem Jüdischen Volk, es nicht gegen eine andere Nation auszutauschen. Rabbi Chaim Ibn Atar (1696-1743) meint deshalb auch, dass das Fest der Gesetzgebung an Stelle von Schawuot (Wochenfest) eigentlich Schewu’ot (Fest der Versprechungen) heißen müsste, da G“tt und das Jüdische Volk einander ewige Treue schwörten.
Zu Pessach haben wir Matzot, den Sederabend und 4 Becher Wein. Zu Sukkot kennen wir den Lulav (Feststrauss aus Pflanzenarten) und die Sukka (Laubhütte). Schawuot kommt wohl etwas armselig davon. Während dieses kurzen Festes gelten keine speziellen Gebote, die den spezifischen Charakter dieses Festes betonen. Unbeschadet hiervon haben sich im Laufe der Jahrhunderte jedoch zu Schawuot viele Minhagim (Bräuche) eingebürgert. Minhagim nehmen als Traditionen der Vorväter innerhalb des Jüdischen Volkes einen besonderen Platz ein.
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MILCHIGE SPEISEN
So ist es ein Brauch, zu Schawuot milchige Speisen zu essen, bei dem der Käsekuchen (=Quarktorte) absolut nicht fehlen darf. Dieser Minhag enthält eine tiefgehende Symbolik mit allerlei Hinweisen zu den Geschehnissen, die vor dem Erhalt der Thora erfolgten:
- So den Zahlenwert VIERZIG des Wortes „Chalav“ (Milch), als Anspielung auf die vierzig Tage, die Mosche auf den Berg Sinai verbrachte.
- Im Ge’ulat Israel steht ein anderer Grund: bis Matan Tora aßen die Juden unreine und nicht-koscher geschlachtete Tiere. Als Folge hiervon war ihr Fleischbestand „trejfe“ geworden. Sie hatten keine andere Wahl, als milchige Speisen zu essen.
- Das Sefer Matamim greift einen dritten Grund auf: am 6. Siwan (das Datum von Schawuot) wird Mosche durch die ägyptische Prinzessin Batja – einer Tochter des Pharaos- aus dem Nil gerettet. Mosche weigerte sich, sich von ägyptischen Ammen stillen zu lassen. Er wollte das nur von seiner Mutter Jocheved.
GESCHMÜCKTE SYNAGOGE
Ein anderer Brauch besagt, dass wir die Synagoge zu Schawuot mit Blumen und Pflanzen schmücken. Auch wieder ein Brauch mit tieferem Inhalt. So möchten Einige hier einen Hinweis sehen
- auf das Schilfgras, in dem Mosche durch seine Mutter versteckt wurde. Mosche wurde am 7. Adar geboren. Seine Mutter konnte Ihn 3 Monate lang zu Hause vor ägyptischen Soldaten versteckt halten. Am 6. Siwan – dem selben Datum, an dem 80 Jahre später die Tora-Übergabe erfolgen sollte – legte Jocheved Mosche in den Nil.
- Andere sehen hierin eine Erinnerung an den Berg Sinai, der zur damaligen Zeit mit grünem Gewächs bedeckt war.
- Einige sehen diesen Minhag im Midrasch angedeutet, der die große Bedeutung der Tora-Gesetzgebung für das Weltgeschehen betont:
„Sie kann mit einem König verglichen werden, der einen Ziergarten anlegte. Einige Zeit später schien sein Garten mit Dornen und Disteln überwuchert zu sein. Der König war im Begriff, den Garten wieder umzupflügen, aber im letzten Augenblick entdeckte er eine wunderschöne Rose. Da sagte er: „ Zum Wohle dieser Blume soll der Garten gerettet werden!“ Der Garten ist die Welt, die G“tt geschaffen hat. Die Dornen und Disteln waren die Verdorbenen der Erde und die Rose ist die Tora. In diesem Midrasch wird die Hoffnung ausgesprochen, dass die Thora die Menschheit vor Schlechtem behüten wird. Als Erinnerung daran wird die Synagoge mit Pflanzen und Blumen geschmückt.
ÜBERTRIEBENES heranRÜCKEN IN DEN VORDERGRUND?
Es scheint oft so, als ob wir unsere Minhagim – die Sitten und Bräuche unserer Synagoge nicht zu vergessen – noch wichtiger finden als den Schulchan Aruch, den international gültigen Jüdischen Codex.
Ich muss jedoch zugeben, dass Minhagim in unserer Tradition einen wichtigen Platz einnehmen. Indem ein Minhag innerhalb des Jüdischen Volkes als ein solcher Eingang gefunden hat, kann dieser nicht so ohne weiteres abgeschafft werden. Sie sind – laut Rabbi Schlomo Ibn Aderet (1235-1310) – bindend.
TIEFERER HINTERGRUND
Fast alle Minhagim enthalten einen tieferen, wenn nicht gar einen mystischen Hintergrund. Oft bringen Minhagim die tiefere Bedeutung der Begründungen der Gesetzesbestimmungen aus der Tora nach vorne.
Minhagim werden auf eigenes Drängen des Jüdischen Volkes eingeführt. Vielleicht nehmen die Minhagim deshalb auch so einen herausragenden Platz zu Schawuot ein. In den Minhagim zeigt das Jüdische Volk, dass es es nicht bei einer sklavenhaften Befolgung der von Oben vorgegebenen Regeln belässt.
In den Minhagim zeigen wir, dass wir bereit sind, in den Traditionen zu leben und diese erweitern möchten. Minhagim zeigen ein wirkliches Interesse an dem, was unseren Vorfahren in einer längst verflogenen Zeit mitgeteilt wurde.
Die Offenbarung am Berge Sinai war vornehmlich – wie das in der mystischen Literatur lautet – eine „Aktion von Oben“. Der Minhag stellt die „eigene Wirksamkeit“ des Jüdischen Volkes in den Vordergrund, eine Reaktion des Menschen auf Erden auf die Offenbarung am Berge Sinai.