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EINE BERACHA GEGEN ANTISEMITISMUS?

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EINE BERACHA GEGEN ANTISEMITISMUS?

Es wird ein Jahr der Herausforderungen. In unserer Umgebung, in ganz Europa scheint der Nationalismus wieder die Oberhand zu gewinnen. In Deutschland fällt Rosch Haschana in eine Zeit von Wahlen, deren Ergebnis wir mit Sorge betrachten. Über unseren Köpfen scheinen sich dunkle Wolken zusammenzuballen.

Doch trotz allem blicke ich optimistisch ins neue Jahr 5780. Trotz des wachsenden Antisemitismus verliere ich als europäischer Jude nicht meinen Mut. Denn wir stehen mit unserer jüdischen Tradition wie ein Fels in der Brandung. Wir haben nie aufgegeben. Und auch dieses Jahr werden wir wieder die Kraft finden, unser Judentum zu festigen.

Genau wie jedes Jahr gehen wir wieder in die Synagogen. Wir beten für Glück in unserem engeren Familienkreis, innerhalb unseres eigenen Volkes, im jüdischen Staat Israel, in der gesamten Welt, wir hoffen auf die Sympathie unserer Umwelt, auf Anerkennung und Akzeptanz, auf Erfolg in allen Bereichen.

Aber in der Tiefe unseres Herzens machen wir uns Sorgen über die Bedrohung, die uns aus unserem Umfeld entgegenschlägt. Wir haben Angst davor, dass der Antisemitismus seine hässliche Fratze wieder offen zeigt. Leider ist das tatsächlich auch der Fall. Dennoch gibt es in unserer Tradition kein eindeutiges Gebet gegen Antisemitismus.

Das ist eigenartig. Denn für fast jedes Phänomen gibt es eine Bracha (Segensspruch). Anlässlich jedes neuen Feiertages sprechen wir Schehechijanu und danken G’tt dafür, dass wir auch dieses Jahr wieder Rosch Haschana, Jom Kippur und Sukkot, das Laubhüttenfest, feiern können und dürfen. Für jeden Happen Essen oder für jeden Schluck Trinken, für jeden Schritt im Leben, von der Geburt bis zum Tod, gibt es eine Bracha.

In den vergangenen Wochen habe ich mir selbst die Frage gestellt, ob es eine Bracha gegen Antisemitismus gibt, und falls nicht, wieso? Aber was ist eigentlich eine Bracha? Wir danken G’tt für etwas Schönes, das wir erleben.

Aber Antisemitismus ist nicht schön. Wie könnte ich darüber eine Beracha sprechen? Es müsste eine Beracha gegen Antisemitismus werden. Ich quälte mich mit meinen Gedanken. Gibt es eine Bracha gegen etwas Unangenehmes, gegen Schwarzes und Negatives?

Es sollte eine Bracha sein, in der wir unsere Hoffnung aussprechen, dass G’tt dafür sorgt, dass der Antisemitismus wie der Schnee in der Sonne verschwindet. Oder dass G’tt uns die Kraft verleiht, allem Negativen in unserem Umfeld zu widerstehen und zu wachsen, eben gerade gegen alle Unterdrückung. Aber wo finde ich eine solche Bracha? Gerade zum Anfang des neuen Jahres hätte ich mir in unserer Liturgie zu den Hohen Feiertagen eine solche Hoffnung bringende Beracha erhofft.

Meistens übersetzen wir unseren Segensspruch »Baruch Ata Haschem« mit »Gelobt oder gepriesen seiest Du, König der Welt«. Ich hatte mit der Wiedergabe dieses hebräischen Textes schon immer ein großes Problem. Ich vermisste den Inhalt, und er sprach mich nicht an.

Laut unserer Tradition empfindet G’tt es als angenehm, wenn seine Untertanen Ihn loben und an Ihn glauben, aber das sagte mir schon als Kind zu wenig. Ich empfand, dass G’tt nicht genügend im Mittelpunkt steht. Doch als ich 15 Jahre alt war, hörte ich eine Erklärung, die den Himmel für mich öffnete – als ob ein Lichtstrahl durch das dunkle Firmament brach.

»Baruch« kommt vom hebräischen Wort »Berech«, auf Deutsch Knie. Mit dem Knie können wir uns bücken, uns verbeugen und uns nach unten bewegen. »Baruch« bedeutet: G’tt lässt Sich selbst in diese materielle Welt und in meine Fantasie hinab, wenn ich Ihn in jedem Geschehen und Ereignis in meinem Leben erkenne.

An Rosch Haschana krönen wir G’tt zum König dieser Welt und rufen den Allerhöchsten zur verbindenden Macht hinter des gesamten Universums aus. Als »gewöhnlicher« Jude könnte man den Eindruck bekommen, dass man den gesamten Tag nur mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt ist, aber letztendlich bin ich Teil eines viel größeren Ganzen mit einer überirdischen Sendung, die unserem nicht besonders spannenden Alltagsleben eine viel tiefere Bedeutung verleiht, als wir uns je hätten träumen lassen.

Wir sind Teil eines Volkes, das sich seit den Zeiten unseres ersten Erzvaters Awraham, zu messianischen Zeiten vorarbeitet, in denen die g’ttliche Anwesenheit für jeden Menschen in jedem Atom, in der gesamten Welt so deutlich wahrnehmbar sein wird wie in glasklarem Wasser.

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Als Semiten haben wir den Auftrag, das G’ttliche in der Welt zu verbreiten und bekannt zu machen. Sem war ein Sohn von Noah. Zehn Generationen nach ihm wurde Awraham geboren, der begann, den Monotheismus zu verbreiten. Sein Zweck heiligte viele Mittel. Mitten in der Wüste baute er eine Art von »Kabbala-Center« auf. Kabbala bedeutet eigentlich den »Empfang der Tradition«, mit einer Politik der offenen Tür. Jeder war willkommen, um dort gratis zu essen, zu trinken und zu schlafen.

Wenn seine Gäste sich bei Awraham für seine maßlose Gastfreundschaft bedankten, sagte er, sie sollten sich nicht bei ihm, sondern bei G’tt bedanken. Die Heiden kamen mit Awraham über den Monotheismus ins Gespräch und waren von seinen neuen Ideen tief beeindruckt.

Aber diese Aktivitäten stießen auf enormen Widerstand. Nicht jeder war davon angetan. Die Heiden und deren Priester sahen in Awraham die größte Bedrohung für ihre dem Götzendienst gewidmeten Handlungen. Die Götzendiener der damaligen Zeit beschwerten sich bei König Nimrod, der Awraham in einen Feuerofen werfen ließ. Nur wie durch ein Wunder wurde er gerettet. Letztendlich wanderte Awraham von Ur Kasdim nach Israel aus, dem Land, das ihm als Wohnort für seine Enkelkinder verheißen wurde.

Diesen Hintergrund des wundersamen Fortbestehens unseres Volkes im Hinterkopf, machte ich mich auf die Suche nach einem inspirierenden Gebet gegen Antisemitismus. Wie ich zu meinem großen Erstaunen feststellte, finden sich unsere Sorgen über die zunehmende Judenfeindschaft im Mittelpunkt aller Gebete von Rosch Haschana und Jom Kippur wieder – wir müssen nur die tiefer gehende Philosophie und die Hintergründe unserer Liturgie erkennen

Historisch ist es auch interessant, dass Awraham der erste war, der unsere Gebete formulierte und festlegte. Er formulierte das Morgengebet, sein Sohn Jitzchak komponierte das Mittagsgebet, und sein Enkelsohn Jakow stellte das Abendgebet zusammen. Anfangs dachte ich, dass hier drei sehr begabte Männer ihre eigenen Gedanken formulierten, aber ihre Inspiration kam von oben, und deshalb sind ihre Gebete noch immer unsere Gebete. Wenn wir in diese Welt etwas Dauerhaftes einbringen möchten, müssen wir uns mit der ewigen Quelle von allem verbinden. Nur dann haben auch unsere Gebete Ewigkeitswert.

Über meine Entdeckung werden Sie genauso staunen wie ich: In unserem Gebetbuch zu Rosch Haschana beginnt jedes Gebet mit einer Bracha gegen Antisemitismus. Zwar heißt es nicht: »G’tt rette uns vor den Antisemiten«, sondern es wird positiv formuliert: »Verleihe uns die Kraft, all diesen negativen Mächten zu entsteigen, und beschütze uns gegen alles Negative, das uns umgibt.«

Es gibt also doch eine Bracha gegen Antisemitismus!

Sie lautet »Magen Awraham«, das Schild Awrahams. Viele von uns tragen einen Magen David, das Schild Davids, in Form eines sechseckigen Schmuckstücks an einer Kette. Aber wenn wir beten, beginnen wir beim Anfang der jüdischen Geschichte, beim ersten Juden – Awraham. Alle unsere im Mittelpunkt stehenden Gebete zu Rosch Haschana beginnen mit dem Satz: »Gepriesen seist Du, G’tt, Magen Awraham – das Schild Awrahams«.

Machen wir uns bewusst, dass dieser Mann wegen seiner revolutionären Ideen, die die gesamte gesellschaftliche Ordnung in ihren Grundsätzen erschütterte, angefeindet wurde. Er wurde von der Obrigkeit mit dem Tode bedroht. Er landete laut einer Legende sogar auf einem Scheiterhaufen, kannte aber kein Aufhören. Er stand zu seinen Idealen, schüttete kein Wasser in den Wein, redete niemandem nach dem Mund und nutzte jede Gelegenheit, seinen neuen Glauben zu predigen.

Er schämte sich nicht für sein Judentum, im Gegenteil. Dieser Kämpfer für das Gute und für das G’ttliche in der Welt hat letztendlich das Heidentum besiegt. Die Geschichte des Monotheismus hat dies bewiesen. Aber noch immer wird Awrahams Gedankenwelt in ihrem vollkommensten Ausdruck des Monotheismus, im Judentum, angegriffen – bis heute.

Das Judentum hat leider viele Feinde. Aber der große Beschützer des Guten und des Erhabenen steht hinter uns. Ab und zu gelingt es unseren Widersachern, uns einen Schlag zu versetzen, aber wir entkommen immer wieder aufs Neue den Gefahren, die uns umgeben, und gehen immer wieder als Sieger hervor.

Jeden Tag des neuen Jahres 5780 können wir aus G’ttes Einheit und dem Auftrag an unser Volk, der mit Awraham begann, wieder enorme Kraft und positive, andauernde Energie schöpfen. Mein Leitfaden für wehrfähiges Judentum lautet: Jeder und jede sollte ab diesem Rosch-Haschana-Fest täglich zweimal, morgens und abends, die Worte »Schema Jisrael, HaSchem Elokenu, HaSchem Echad« sprechen und jeden Tag mindestens drei Mal – am Schabbat und Feiertagen vier Mal – die Worte:

»Gepriesen seiest Du, unser G’tt und G’tt unserer Vorväter, der G’tt Awrahams, der G’tt von Jitzchak und der G’tt von Jakow, der große, starke, Ehrfurcht auslösende, höchste G’tt, der liebevolle, helfende und unterstützende Güte bezeugt, und der Eigner des All ist, der sich an die guten Taten unserer Ahnen erinnert, und den Erlöser, den Maschiach, zur Ehre Seines großen Namens für ihre Enkelkinder bringt, helfender, unterstützender und beschützender König. Näher gekommen bist Du, ewiger G’tt, der das Schild von Awraham ist.«

Diese Kraft, die wir damit für das gesamte Jahr erlangen können, ist der dauerhafte und zielgerichtete Schutz gegen Antisemitismus. Ich wünsche Ihnen Schana Towa Umetuka, ein gesegnetes neues Jahr 5780!

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